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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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und den Menschen unerträgliches Geschlecht zeugen, und den eignen
Vater erschlagen. Dieß gehört sagt er, um sein Schicksal zu meiden,
Korinth auf ewig Lebewohl, und beschließt bis dahin zu fliehen, wo er
jene geweissagten Verbrechen niemals begehen könnte. Auf der Flucht
begegnet er selbst Lajos ohne zu wissen, daß es Lajos und der König
von Thebe ist, und erschlägt ihn im Streit. Auf dem Weg nach
Thebe befreit er die Gegend von dem Ungeheuer der Sphinx und kommt
in die Stadt, wo beschlossen war, daß wer sie erlegen würde, König
seyn und Jokaste zur Gemahlin haben sollte. So vollendet sich
das Schicksal des Oedipus, ihm selbst unbewußt; er heirathet seine
Mutter und zeugt das unglückliche Geschlecht seiner Söhne und Töchter
mit ihr.

Ein ähnliches, obwohl nicht ganz gleiches Schicksal ist das
der Phädra, welche durch den, von der Pasiphae her, entbrannten
Haß der Venus gegen ihr Geschlecht zur Liebe des Hippolytus ent-
flammt wird.

Wir sehen also, daß der Streit von Freiheit und Nothwendigkeit
wahrhaft nur da ist, wo diese den Willen selbst untergräbt, und die
Freiheit auf ihrem eignen Boden bekämpft wird.

Man hat, anstatt einzusehen, daß dieses Verhältniß das einzig
wahrhaft tragische ist, mit dem kein anderes verglichen werden kann,
wo das Unglück nicht im Willen und in der Freiheit selbst liegt, vielmehr
gefragt, wie die Griechen diese schrecklichen Widersprüche ihrer Tragö-
dien haben ertragen können. Ein Sterblicher, vom Verhängniß zur
Schuld und zum Verbrechen bestimmt, selbst wie Oedipus gegen das
Verhängniß kämpfend, die Schuld fliehend, und doch fürchterlich be-
straft für das Verbrechen, das ein Werk des Schicksals war. Sind,
frug man, diese Widersprüche nicht rein zerreißend, und wo liegt der
Grund der Schönheit, welche die Griechen in ihren Tragödien nichts
desto weniger erreicht haben? -- Die Antwort auf diese Frage ist folgende.
Daß ein wahrhafter Streit von Freiheit und Nothwendigkeit nur in
dem angegebenen Fall stattfinden kann, wo der Schuldige durch das
Schicksal zum Verbrecher gemacht ist, ist bewiesen. Daß aber der

und den Menſchen unerträgliches Geſchlecht zeugen, und den eignen
Vater erſchlagen. Dieß gehört ſagt er, um ſein Schickſal zu meiden,
Korinth auf ewig Lebewohl, und beſchließt bis dahin zu fliehen, wo er
jene geweiſſagten Verbrechen niemals begehen könnte. Auf der Flucht
begegnet er ſelbſt Lajos ohne zu wiſſen, daß es Lajos und der König
von Thebe iſt, und erſchlägt ihn im Streit. Auf dem Weg nach
Thebe befreit er die Gegend von dem Ungeheuer der Sphinx und kommt
in die Stadt, wo beſchloſſen war, daß wer ſie erlegen würde, König
ſeyn und Jokaſte zur Gemahlin haben ſollte. So vollendet ſich
das Schickſal des Oedipus, ihm ſelbſt unbewußt; er heirathet ſeine
Mutter und zeugt das unglückliche Geſchlecht ſeiner Söhne und Töchter
mit ihr.

Ein ähnliches, obwohl nicht ganz gleiches Schickſal iſt das
der Phädra, welche durch den, von der Paſiphaë her, entbrannten
Haß der Venus gegen ihr Geſchlecht zur Liebe des Hippolytus ent-
flammt wird.

Wir ſehen alſo, daß der Streit von Freiheit und Nothwendigkeit
wahrhaft nur da iſt, wo dieſe den Willen ſelbſt untergräbt, und die
Freiheit auf ihrem eignen Boden bekämpft wird.

Man hat, anſtatt einzuſehen, daß dieſes Verhältniß das einzig
wahrhaft tragiſche iſt, mit dem kein anderes verglichen werden kann,
wo das Unglück nicht im Willen und in der Freiheit ſelbſt liegt, vielmehr
gefragt, wie die Griechen dieſe ſchrecklichen Widerſprüche ihrer Tragö-
dien haben ertragen können. Ein Sterblicher, vom Verhängniß zur
Schuld und zum Verbrechen beſtimmt, ſelbſt wie Oedipus gegen das
Verhängniß kämpfend, die Schuld fliehend, und doch fürchterlich be-
ſtraft für das Verbrechen, das ein Werk des Schickſals war. Sind,
frug man, dieſe Widerſprüche nicht rein zerreißend, und wo liegt der
Grund der Schönheit, welche die Griechen in ihren Tragödien nichts
deſto weniger erreicht haben? — Die Antwort auf dieſe Frage iſt folgende.
Daß ein wahrhafter Streit von Freiheit und Nothwendigkeit nur in
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[696/0372] und den Menſchen unerträgliches Geſchlecht zeugen, und den eignen Vater erſchlagen. Dieß gehört ſagt er, um ſein Schickſal zu meiden, Korinth auf ewig Lebewohl, und beſchließt bis dahin zu fliehen, wo er jene geweiſſagten Verbrechen niemals begehen könnte. Auf der Flucht begegnet er ſelbſt Lajos ohne zu wiſſen, daß es Lajos und der König von Thebe iſt, und erſchlägt ihn im Streit. Auf dem Weg nach Thebe befreit er die Gegend von dem Ungeheuer der Sphinx und kommt in die Stadt, wo beſchloſſen war, daß wer ſie erlegen würde, König ſeyn und Jokaſte zur Gemahlin haben ſollte. So vollendet ſich das Schickſal des Oedipus, ihm ſelbſt unbewußt; er heirathet ſeine Mutter und zeugt das unglückliche Geſchlecht ſeiner Söhne und Töchter mit ihr. Ein ähnliches, obwohl nicht ganz gleiches Schickſal iſt das der Phädra, welche durch den, von der Paſiphaë her, entbrannten Haß der Venus gegen ihr Geſchlecht zur Liebe des Hippolytus ent- flammt wird. Wir ſehen alſo, daß der Streit von Freiheit und Nothwendigkeit wahrhaft nur da iſt, wo dieſe den Willen ſelbſt untergräbt, und die Freiheit auf ihrem eignen Boden bekämpft wird. Man hat, anſtatt einzuſehen, daß dieſes Verhältniß das einzig wahrhaft tragiſche iſt, mit dem kein anderes verglichen werden kann, wo das Unglück nicht im Willen und in der Freiheit ſelbſt liegt, vielmehr gefragt, wie die Griechen dieſe ſchrecklichen Widerſprüche ihrer Tragö- dien haben ertragen können. Ein Sterblicher, vom Verhängniß zur Schuld und zum Verbrechen beſtimmt, ſelbſt wie Oedipus gegen das Verhängniß kämpfend, die Schuld fliehend, und doch fürchterlich be- ſtraft für das Verbrechen, das ein Werk des Schickſals war. Sind, frug man, dieſe Widerſprüche nicht rein zerreißend, und wo liegt der Grund der Schönheit, welche die Griechen in ihren Tragödien nichts deſto weniger erreicht haben? — Die Antwort auf dieſe Frage iſt folgende. Daß ein wahrhafter Streit von Freiheit und Nothwendigkeit nur in dem angegebenen Fall ſtattfinden kann, wo der Schuldige durch das Schickſal zum Verbrecher gemacht iſt, iſt bewieſen. Daß aber der

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 696. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/372>, abgerufen am 22.11.2024.