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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Auch hierin ist er den Alten ähnlich, unähnlich nur dem Euripi-
des, der als der schon frivolere Dichter die Mythen willkürlich entstellt.

Die nächste Untersuchung ist, inwiefern das Wesen der alten
Tragödie in der modernen stattfinde, oder nicht. Ist in der modernen
Tragödie ein wahres Schicksal, und zwar jenes höhere, welches die
Freiheit in ihr selbst ergreift?

Aristoteles drückt, wie bemerkt, den höchsten tragischen Fall so
aus, daß ein gerechter Mensch durch Irrthum Verbrechen begehe;
es muß dazu gesetzt werden, daß dieser Irrthum von der Nothwendig-
keit oder von Göttern, womöglich selbst gegen die Freiheit, verhängt
sey. Dieser letztere Fall scheint nun nach den Begriffen der christlichen
Religion überhaupt ein unmöglicher. Diejenigen Mächte, die den
Willen untergraben, und nicht nur das Ueble, sondern das Böse ver-
hängen, sind selbst böse, sind höllische Mächte.

Wenigstens wenn ein durch göttliche Schickung veranlaßter Irrthum
Ursache von Unheil und Verbrechen seyn könnte, so müßte in derselbigen Re-
ligion, nach welcher dieß möglich ist, auch die Möglichkeit einer entsprechen-
den Versöhnung liegen. Diese ist nun allerdings im Katholicismus gegeben,
der, seiner Natur nach eine Mischung des Heiligen und Profanen, die Sün-
den statuirt, um an ihrer Versöhnung die Kraft der Gnadenmittel zu be-
weisen. Hiermit war im Katholicismus die Möglichkeit des zwar von dem
der Alten verschiedenen, aber doch wahrhaft tragischen Schicksals gegeben.

Shakespeare war Protestant und für ihn stand diese Möglichkeit nicht
offen. Wenn es also in ihm ein Fatum gibt, so kann es nur von ge-
doppelter Art seyn. Entweder daß das Unheil durch die Lockung böser
und höllischer Mächte heibeigeführt wird, aber nach den christlichen
Begriffen können diese nicht unüberwindlich seyn, und es soll und
kann ihnen Widerstand geleistet werden. Die Nothwendigkeit ihrer
Wirkung, sofern sie statt hat, fällt also doch zuletzt in den Charakter
oder das Subjekt zurück. So ist es auch bei Shakespeare. An die
Stelle des alten Schicksals tritt bei ihm der Charakter, aber er legt in
diesen ein so mächtiges Fatum, daß er nicht mehr für Freiheit gerechnet
werden kann, sondern als unüberwindliche Nothwendigkeit dasteht.

Auch hierin iſt er den Alten ähnlich, unähnlich nur dem Euripi-
des, der als der ſchon frivolere Dichter die Mythen willkürlich entſtellt.

Die nächſte Unterſuchung iſt, inwiefern das Weſen der alten
Tragödie in der modernen ſtattfinde, oder nicht. Iſt in der modernen
Tragödie ein wahres Schickſal, und zwar jenes höhere, welches die
Freiheit in ihr ſelbſt ergreift?

Ariſtoteles drückt, wie bemerkt, den höchſten tragiſchen Fall ſo
aus, daß ein gerechter Menſch durch Irrthum Verbrechen begehe;
es muß dazu geſetzt werden, daß dieſer Irrthum von der Nothwendig-
keit oder von Göttern, womöglich ſelbſt gegen die Freiheit, verhängt
ſey. Dieſer letztere Fall ſcheint nun nach den Begriffen der chriſtlichen
Religion überhaupt ein unmöglicher. Diejenigen Mächte, die den
Willen untergraben, und nicht nur das Ueble, ſondern das Böſe ver-
hängen, ſind ſelbſt böſe, ſind hölliſche Mächte.

Wenigſtens wenn ein durch göttliche Schickung veranlaßter Irrthum
Urſache von Unheil und Verbrechen ſeyn könnte, ſo müßte in derſelbigen Re-
ligion, nach welcher dieß möglich iſt, auch die Möglichkeit einer entſprechen-
den Verſöhnung liegen. Dieſe iſt nun allerdings im Katholicismus gegeben,
der, ſeiner Natur nach eine Miſchung des Heiligen und Profanen, die Sün-
den ſtatuirt, um an ihrer Verſöhnung die Kraft der Gnadenmittel zu be-
weiſen. Hiermit war im Katholicismus die Möglichkeit des zwar von dem
der Alten verſchiedenen, aber doch wahrhaft tragiſchen Schickſals gegeben.

Shakeſpeare war Proteſtant und für ihn ſtand dieſe Möglichkeit nicht
offen. Wenn es alſo in ihm ein Fatum gibt, ſo kann es nur von ge-
doppelter Art ſeyn. Entweder daß das Unheil durch die Lockung böſer
und hölliſcher Mächte heibeigeführt wird, aber nach den chriſtlichen
Begriffen können dieſe nicht unüberwindlich ſeyn, und es ſoll und
kann ihnen Widerſtand geleiſtet werden. Die Nothwendigkeit ihrer
Wirkung, ſofern ſie ſtatt hat, fällt alſo doch zuletzt in den Charakter
oder das Subjekt zurück. So iſt es auch bei Shakeſpeare. An die
Stelle des alten Schickſals tritt bei ihm der Charakter, aber er legt in
dieſen ein ſo mächtiges Fatum, daß er nicht mehr für Freiheit gerechnet
werden kann, ſondern als unüberwindliche Nothwendigkeit daſteht.

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[720/0396] Auch hierin iſt er den Alten ähnlich, unähnlich nur dem Euripi- des, der als der ſchon frivolere Dichter die Mythen willkürlich entſtellt. Die nächſte Unterſuchung iſt, inwiefern das Weſen der alten Tragödie in der modernen ſtattfinde, oder nicht. Iſt in der modernen Tragödie ein wahres Schickſal, und zwar jenes höhere, welches die Freiheit in ihr ſelbſt ergreift? Ariſtoteles drückt, wie bemerkt, den höchſten tragiſchen Fall ſo aus, daß ein gerechter Menſch durch Irrthum Verbrechen begehe; es muß dazu geſetzt werden, daß dieſer Irrthum von der Nothwendig- keit oder von Göttern, womöglich ſelbſt gegen die Freiheit, verhängt ſey. Dieſer letztere Fall ſcheint nun nach den Begriffen der chriſtlichen Religion überhaupt ein unmöglicher. Diejenigen Mächte, die den Willen untergraben, und nicht nur das Ueble, ſondern das Böſe ver- hängen, ſind ſelbſt böſe, ſind hölliſche Mächte. Wenigſtens wenn ein durch göttliche Schickung veranlaßter Irrthum Urſache von Unheil und Verbrechen ſeyn könnte, ſo müßte in derſelbigen Re- ligion, nach welcher dieß möglich iſt, auch die Möglichkeit einer entſprechen- den Verſöhnung liegen. Dieſe iſt nun allerdings im Katholicismus gegeben, der, ſeiner Natur nach eine Miſchung des Heiligen und Profanen, die Sün- den ſtatuirt, um an ihrer Verſöhnung die Kraft der Gnadenmittel zu be- weiſen. Hiermit war im Katholicismus die Möglichkeit des zwar von dem der Alten verſchiedenen, aber doch wahrhaft tragiſchen Schickſals gegeben. Shakeſpeare war Proteſtant und für ihn ſtand dieſe Möglichkeit nicht offen. Wenn es alſo in ihm ein Fatum gibt, ſo kann es nur von ge- doppelter Art ſeyn. Entweder daß das Unheil durch die Lockung böſer und hölliſcher Mächte heibeigeführt wird, aber nach den chriſtlichen Begriffen können dieſe nicht unüberwindlich ſeyn, und es ſoll und kann ihnen Widerſtand geleiſtet werden. Die Nothwendigkeit ihrer Wirkung, ſofern ſie ſtatt hat, fällt alſo doch zuletzt in den Charakter oder das Subjekt zurück. So iſt es auch bei Shakeſpeare. An die Stelle des alten Schickſals tritt bei ihm der Charakter, aber er legt in dieſen ein ſo mächtiges Fatum, daß er nicht mehr für Freiheit gerechnet werden kann, ſondern als unüberwindliche Nothwendigkeit daſteht.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 720. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/396>, abgerufen am 22.11.2024.