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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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theilte Absolutheit von der andern Seite ist das bestim-
mende Gesetz aller Göttergestalten
. -- Denn sie sind die real
angeschauten Ideen. Die besondern Dinge aber sind in den Ideen
nicht, ohne eben dadurch zugleich wahrhaft oder absolut geschieden und
wahrhaft eins, nämlich gleich absolut zu seyn, nach §. 26. Also ist
auch strenge Absonderung oder Begrenzung von der einen und gleiche
Absolutheit von der andern Seite das bestimmende Gesetz der Götterwelt.

Anmerkung. Wir haben vorzüglich auf dieses Verhältniß zu
achten, wenn wir die große Bedeutung der Göttergestalten im Einzelnen
und im Ganzen fassen wollen. Nur dadurch erstens, daß sie streng
begrenzt, daß also sich wechselseitig einschränkende Eigenschaften in einer
und derselben Gottheit sich ausschließen und absolut getrennt sind, und
daß gleichwohl innerhalb dieser Begrenzung jede Form die ganze Gött-
lichkeit in sich empfängt, liegt eigentlich das Geheimniß ihres Reizes
und ihrer Fähigkeit für Kunstdarstellungen. Dadurch erhält die Kunst
gesonderte, beschlossene Gestalten, und in jeder doch die Totalität, die
ganze Göttlichkeit. Ich sehe mich hier in der Nothwendigkeit, um durch
Beispiele verständlich zu werden, diese aus der griechischen Götterwelt
zu entlehnen, obgleich wir die vollständige Construktion derselben erst
durch die ganze Folge erhalten können. Indeß wenn Sie sehen, daß
alle Züge der griechischen Götter auf unsere Deduktion des Gesetzes
aller Göttergestalten passen, so muß zum voraus auch zugegeben werden,
daß die griechische Mythologie das höchste Urbild der poetischen Welt
ist. Also um einige Beispiele für den Satz zu geben, daß reine Be-
grenzung einerseits und ungetheilte Absolutheit andererseits das Wesen
der Göttergestalten; so ist die Minerva das Urbild der Weisheit und
Stärke in Vereinung, aber die weibliche Zärtlichkeit ist ihr genommen;
beide Eigenschaften vereinigt würden diese Gestalt zur Gleichgültigkeit,
und demnach mehr oder weniger zur Nullität reduciren. Juno ist Macht
ohne Weisheit und sanften Liebreiz, den sie von der Venus mit ihrem
Gürtel borgt. Wäre dagegen dieser zugleich die kalte Weisheit der
Minerva verliehen, so wären ohne Zweifel ihre Wirkungen nicht so
verderblich, als es die des trojanischen Kriegs sind, den sie veranlaßt,

theilte Abſolutheit von der andern Seite iſt das beſtim-
mende Geſetz aller Göttergeſtalten
. — Denn ſie ſind die real
angeſchauten Ideen. Die beſondern Dinge aber ſind in den Ideen
nicht, ohne eben dadurch zugleich wahrhaft oder abſolut geſchieden und
wahrhaft eins, nämlich gleich abſolut zu ſeyn, nach §. 26. Alſo iſt
auch ſtrenge Abſonderung oder Begrenzung von der einen und gleiche
Abſolutheit von der andern Seite das beſtimmende Geſetz der Götterwelt.

Anmerkung. Wir haben vorzüglich auf dieſes Verhältniß zu
achten, wenn wir die große Bedeutung der Göttergeſtalten im Einzelnen
und im Ganzen faſſen wollen. Nur dadurch erſtens, daß ſie ſtreng
begrenzt, daß alſo ſich wechſelſeitig einſchränkende Eigenſchaften in einer
und derſelben Gottheit ſich ausſchließen und abſolut getrennt ſind, und
daß gleichwohl innerhalb dieſer Begrenzung jede Form die ganze Gött-
lichkeit in ſich empfängt, liegt eigentlich das Geheimniß ihres Reizes
und ihrer Fähigkeit für Kunſtdarſtellungen. Dadurch erhält die Kunſt
geſonderte, beſchloſſene Geſtalten, und in jeder doch die Totalität, die
ganze Göttlichkeit. Ich ſehe mich hier in der Nothwendigkeit, um durch
Beiſpiele verſtändlich zu werden, dieſe aus der griechiſchen Götterwelt
zu entlehnen, obgleich wir die vollſtändige Conſtruktion derſelben erſt
durch die ganze Folge erhalten können. Indeß wenn Sie ſehen, daß
alle Züge der griechiſchen Götter auf unſere Deduktion des Geſetzes
aller Göttergeſtalten paſſen, ſo muß zum voraus auch zugegeben werden,
daß die griechiſche Mythologie das höchſte Urbild der poetiſchen Welt
iſt. Alſo um einige Beiſpiele für den Satz zu geben, daß reine Be-
grenzung einerſeits und ungetheilte Abſolutheit andererſeits das Weſen
der Göttergeſtalten; ſo iſt die Minerva das Urbild der Weisheit und
Stärke in Vereinung, aber die weibliche Zärtlichkeit iſt ihr genommen;
beide Eigenſchaften vereinigt würden dieſe Geſtalt zur Gleichgültigkeit,
und demnach mehr oder weniger zur Nullität reduciren. Juno iſt Macht
ohne Weisheit und ſanften Liebreiz, den ſie von der Venus mit ihrem
Gürtel borgt. Wäre dagegen dieſer zugleich die kalte Weisheit der
Minerva verliehen, ſo wären ohne Zweifel ihre Wirkungen nicht ſo
verderblich, als es die des trojaniſchen Kriegs ſind, den ſie veranlaßt,

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[392/0068] theilte Abſolutheit von der andern Seite iſt das beſtim- mende Geſetz aller Göttergeſtalten. — Denn ſie ſind die real angeſchauten Ideen. Die beſondern Dinge aber ſind in den Ideen nicht, ohne eben dadurch zugleich wahrhaft oder abſolut geſchieden und wahrhaft eins, nämlich gleich abſolut zu ſeyn, nach §. 26. Alſo iſt auch ſtrenge Abſonderung oder Begrenzung von der einen und gleiche Abſolutheit von der andern Seite das beſtimmende Geſetz der Götterwelt. Anmerkung. Wir haben vorzüglich auf dieſes Verhältniß zu achten, wenn wir die große Bedeutung der Göttergeſtalten im Einzelnen und im Ganzen faſſen wollen. Nur dadurch erſtens, daß ſie ſtreng begrenzt, daß alſo ſich wechſelſeitig einſchränkende Eigenſchaften in einer und derſelben Gottheit ſich ausſchließen und abſolut getrennt ſind, und daß gleichwohl innerhalb dieſer Begrenzung jede Form die ganze Gött- lichkeit in ſich empfängt, liegt eigentlich das Geheimniß ihres Reizes und ihrer Fähigkeit für Kunſtdarſtellungen. Dadurch erhält die Kunſt geſonderte, beſchloſſene Geſtalten, und in jeder doch die Totalität, die ganze Göttlichkeit. Ich ſehe mich hier in der Nothwendigkeit, um durch Beiſpiele verſtändlich zu werden, dieſe aus der griechiſchen Götterwelt zu entlehnen, obgleich wir die vollſtändige Conſtruktion derſelben erſt durch die ganze Folge erhalten können. Indeß wenn Sie ſehen, daß alle Züge der griechiſchen Götter auf unſere Deduktion des Geſetzes aller Göttergeſtalten paſſen, ſo muß zum voraus auch zugegeben werden, daß die griechiſche Mythologie das höchſte Urbild der poetiſchen Welt iſt. Alſo um einige Beiſpiele für den Satz zu geben, daß reine Be- grenzung einerſeits und ungetheilte Abſolutheit andererſeits das Weſen der Göttergeſtalten; ſo iſt die Minerva das Urbild der Weisheit und Stärke in Vereinung, aber die weibliche Zärtlichkeit iſt ihr genommen; beide Eigenſchaften vereinigt würden dieſe Geſtalt zur Gleichgültigkeit, und demnach mehr oder weniger zur Nullität reduciren. Juno iſt Macht ohne Weisheit und ſanften Liebreiz, den ſie von der Venus mit ihrem Gürtel borgt. Wäre dagegen dieſer zugleich die kalte Weisheit der Minerva verliehen, ſo wären ohne Zweifel ihre Wirkungen nicht ſo verderblich, als es die des trojaniſchen Kriegs ſind, den ſie veranlaßt,

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/68>, abgerufen am 21.11.2024.