beleidigend, auf jeden Fall widerlich. Für die Vernunft und Phantasie wird auch die Begrenzung entweder nur Form des Absoluten oder, als Begrenzung aufgefaßt, ein unerschöpflicher Quell des Scherzes und des Spiels, denn mit der Begrenzung zu scherzen ist erlaubt, da sie dem Wesen nichts entzieht, an sich bloße Nichtigkeit ist. So spielt in der griechischen Götterwelt der kühnste Scherz wieder mit den Phan- tasiebildern ihrer Götter, wie wenn Venus von Diomedes verwundet ist, und Minerva spottet: "Gewiß hat Venus eine geschmückte Griechin überreden wollen, zu den Trojanern mitzugehen, und mit der goldenen Spange der Griechin die Hand sich geritzt", und Zeus lächelnd zu ihr mit sanften Worten spricht:
Nicht dir wurden verlieh'n, mein Töchterchen, Werke des Krieges; Ordne du lieber hinfort anmuthige Werke der Hochzeit, Jene besorgt schon Ares, der stürmende, und Athenäa 1.
Als eine Folge aus dem aufgestellten Princip kann ferner ange- sehen werden, daß die vollkommenen Götterbildungen erst erscheinen können, nachdem das rein Formlose, Dunkle, Ungeheure verdrungen ist. In diese Region des Dunkeln und Formlosen gehört noch alles, was unmittelbar an die Ewigkeit, den ersten Grund des Daseyns er- innert. Es ist schon öfters bemerkt worden, daß erst die Ideen das Absolute aufschließen; nur in ihnen ist eine positive, zugleich begrenzte und unbegrenzte Anschauung des Absoluten.
Als der gemeinschaftliche Keim der Götter und der Menschen ist das absolute Chaos Nacht, Finsterniß. Auch die ersten Gestalten, welche die Phantasie aus ihm geboren werden läßt, sind noch formlos. Es muß eine Welt unförmlicher und ungeheurer Gestalten versinken, ehe das milde Reich der seligen und bleibenden Götter eintreten kann. Auch in dieser Beziehung bleiben die griechischen Dichtungen dem Gesetz aller Phantasie getreu. Die ersten Geburten aus den Umarmungen des Uranos und der Gäa sind noch Ungeheuer, hundertarmige Riesen, mächtige Cyclopen und die wilden Titanen, Geburten, vor denen sich
1 Ilias V, 424 ff.
beleidigend, auf jeden Fall widerlich. Für die Vernunft und Phantaſie wird auch die Begrenzung entweder nur Form des Abſoluten oder, als Begrenzung aufgefaßt, ein unerſchöpflicher Quell des Scherzes und des Spiels, denn mit der Begrenzung zu ſcherzen iſt erlaubt, da ſie dem Weſen nichts entzieht, an ſich bloße Nichtigkeit iſt. So ſpielt in der griechiſchen Götterwelt der kühnſte Scherz wieder mit den Phan- taſiebildern ihrer Götter, wie wenn Venus von Diomedes verwundet iſt, und Minerva ſpottet: „Gewiß hat Venus eine geſchmückte Griechin überreden wollen, zu den Trojanern mitzugehen, und mit der goldenen Spange der Griechin die Hand ſich geritzt“, und Zeus lächelnd zu ihr mit ſanften Worten ſpricht:
Nicht dir wurden verlieh’n, mein Töchterchen, Werke des Krieges; Ordne du lieber hinfort anmuthige Werke der Hochzeit, Jene beſorgt ſchon Ares, der ſtürmende, und Athenäa 1.
Als eine Folge aus dem aufgeſtellten Princip kann ferner ange- ſehen werden, daß die vollkommenen Götterbildungen erſt erſcheinen können, nachdem das rein Formloſe, Dunkle, Ungeheure verdrungen iſt. In dieſe Region des Dunkeln und Formloſen gehört noch alles, was unmittelbar an die Ewigkeit, den erſten Grund des Daſeyns er- innert. Es iſt ſchon öfters bemerkt worden, daß erſt die Ideen das Abſolute aufſchließen; nur in ihnen iſt eine poſitive, zugleich begrenzte und unbegrenzte Anſchauung des Abſoluten.
Als der gemeinſchaftliche Keim der Götter und der Menſchen iſt das abſolute Chaos Nacht, Finſterniß. Auch die erſten Geſtalten, welche die Phantaſie aus ihm geboren werden läßt, ſind noch formlos. Es muß eine Welt unförmlicher und ungeheurer Geſtalten verſinken, ehe das milde Reich der ſeligen und bleibenden Götter eintreten kann. Auch in dieſer Beziehung bleiben die griechiſchen Dichtungen dem Geſetz aller Phantaſie getreu. Die erſten Geburten aus den Umarmungen des Uranos und der Gäa ſind noch Ungeheuer, hundertarmige Rieſen, mächtige Cyclopen und die wilden Titanen, Geburten, vor denen ſich
1 Ilias V, 424 ff.
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[394/0070]
beleidigend, auf jeden Fall widerlich. Für die Vernunft und Phantaſie
wird auch die Begrenzung entweder nur Form des Abſoluten oder, als
Begrenzung aufgefaßt, ein unerſchöpflicher Quell des Scherzes und
des Spiels, denn mit der Begrenzung zu ſcherzen iſt erlaubt, da
ſie dem Weſen nichts entzieht, an ſich bloße Nichtigkeit iſt. So ſpielt
in der griechiſchen Götterwelt der kühnſte Scherz wieder mit den Phan-
taſiebildern ihrer Götter, wie wenn Venus von Diomedes verwundet
iſt, und Minerva ſpottet: „Gewiß hat Venus eine geſchmückte Griechin
überreden wollen, zu den Trojanern mitzugehen, und mit der goldenen
Spange der Griechin die Hand ſich geritzt“, und Zeus lächelnd zu ihr
mit ſanften Worten ſpricht:
Nicht dir wurden verlieh’n, mein Töchterchen, Werke des Krieges;
Ordne du lieber hinfort anmuthige Werke der Hochzeit,
Jene beſorgt ſchon Ares, der ſtürmende, und Athenäa 1.
Als eine Folge aus dem aufgeſtellten Princip kann ferner ange-
ſehen werden, daß die vollkommenen Götterbildungen erſt erſcheinen
können, nachdem das rein Formloſe, Dunkle, Ungeheure verdrungen
iſt. In dieſe Region des Dunkeln und Formloſen gehört noch alles,
was unmittelbar an die Ewigkeit, den erſten Grund des Daſeyns er-
innert. Es iſt ſchon öfters bemerkt worden, daß erſt die Ideen das
Abſolute aufſchließen; nur in ihnen iſt eine poſitive, zugleich begrenzte
und unbegrenzte Anſchauung des Abſoluten.
Als der gemeinſchaftliche Keim der Götter und der Menſchen iſt
das abſolute Chaos Nacht, Finſterniß. Auch die erſten Geſtalten,
welche die Phantaſie aus ihm geboren werden läßt, ſind noch formlos.
Es muß eine Welt unförmlicher und ungeheurer Geſtalten verſinken,
ehe das milde Reich der ſeligen und bleibenden Götter eintreten kann.
Auch in dieſer Beziehung bleiben die griechiſchen Dichtungen dem Geſetz
aller Phantaſie getreu. Die erſten Geburten aus den Umarmungen
des Uranos und der Gäa ſind noch Ungeheuer, hundertarmige Rieſen,
mächtige Cyclopen und die wilden Titanen, Geburten, vor denen ſich
1 Ilias V, 424 ff.
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/70>, abgerufen am 16.02.2025.
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