Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

der Erzeuger selbst entsetzt und sie wieder in den Tartaros verbirgt.
Das Chaos muß seine eignen Geburten wieder verschlingen. Uranos,
der seine Kinder birgt, muß verdrungen werden, es beginnt die Herr-
schaft des Kronos. Aber auch Kronos noch verschlingt seine eignen
Kinder. Endlich beginnt das Reich des Zeus, aber auch dieses nicht
ohne vorhergegangene Zerstörung. Jupiter muß die Cyclopen und die
hundertarmigen Riesen befreien, damit sie ihm gegen Saturn und die
Titanen beistehen, und erst nachdem er diese Ungeheuer und die letzten
Geburten der über die Schmach ihrer Kinder zürnenden Gäa, die him-
melstürmenden Giganten und das Ungeheuer, an dem sie ihre letzten
Kräfte verschwendet, den Typhöeus besiegt hat, klärt sich der Himmel
auf, Zeus nimmt ruhigen Besitz vom heitern Olymp, an die Stelle
aller unbestimmten und formlosen Gottheiten treten bestimmte, bezeich-
nete Gestalten, an die Stelle des alten Okeanos Neptun, des Tartaros
Pluto, an die Stelle des Titanen Helios der ewig jugendliche Apoll.
Selbst der älteste aller Götter, Eros, den die älteste Dichtung zugleich
mit dem Chaos seyn ließ, wird als Sohn der Venus und des Mars
wieder geboren und eine begrenzte, bleibende Gestalt.

§. 31. Die Welt der Götter ist kein Objekt weder des
bloßen Verstandes noch der Vernunft, sondern einzig mit
der Phantasie aufzufassen
. -- Nicht des Verstandes, denn dieser
haftet nur an der Begrenzung, nicht der Vernunft, denn diese kann
auch in der Wissenschaft die Synthese des Absoluten und der Be-
grenzung nur ideell (urbildlich) darstellen; also der Phantasie, welche
dieselbe gegenbildlich darstellt. Also etc.

Erklärung. Im Verhältniß zur Phantasie bestimme ich Ein-
bildungskraft als das, worin die Produktionen der Kunst empfangen
und ausgebildet werden, Phantasie, was sie äußerlich anschaut, sie aus
sich hinauswirft gleichsam, insofern auch darstellt. Es ist dasselbe Ver-
hältniß zwischen Vernunft und intellektueller Anschauung. In der Ver-
nunft und gleichsam vom Stoff der Vernunft werden die Ideen ge-
bildet, die intellektuelle Anschauung ist das innerlich Darstellende.
Phantasie also ist die intellektuelle Anschauung in der Kunst.

der Erzeuger ſelbſt entſetzt und ſie wieder in den Tartaros verbirgt.
Das Chaos muß ſeine eignen Geburten wieder verſchlingen. Uranos,
der ſeine Kinder birgt, muß verdrungen werden, es beginnt die Herr-
ſchaft des Kronos. Aber auch Kronos noch verſchlingt ſeine eignen
Kinder. Endlich beginnt das Reich des Zeus, aber auch dieſes nicht
ohne vorhergegangene Zerſtörung. Jupiter muß die Cyclopen und die
hundertarmigen Rieſen befreien, damit ſie ihm gegen Saturn und die
Titanen beiſtehen, und erſt nachdem er dieſe Ungeheuer und die letzten
Geburten der über die Schmach ihrer Kinder zürnenden Gäa, die him-
melſtürmenden Giganten und das Ungeheuer, an dem ſie ihre letzten
Kräfte verſchwendet, den Typhöeus beſiegt hat, klärt ſich der Himmel
auf, Zeus nimmt ruhigen Beſitz vom heitern Olymp, an die Stelle
aller unbeſtimmten und formloſen Gottheiten treten beſtimmte, bezeich-
nete Geſtalten, an die Stelle des alten Okeanos Neptun, des Tartaros
Pluto, an die Stelle des Titanen Helios der ewig jugendliche Apoll.
Selbſt der älteſte aller Götter, Eros, den die älteſte Dichtung zugleich
mit dem Chaos ſeyn ließ, wird als Sohn der Venus und des Mars
wieder geboren und eine begrenzte, bleibende Geſtalt.

§. 31. Die Welt der Götter iſt kein Objekt weder des
bloßen Verſtandes noch der Vernunft, ſondern einzig mit
der Phantaſie aufzufaſſen
. — Nicht des Verſtandes, denn dieſer
haftet nur an der Begrenzung, nicht der Vernunft, denn dieſe kann
auch in der Wiſſenſchaft die Syntheſe des Abſoluten und der Be-
grenzung nur ideell (urbildlich) darſtellen; alſo der Phantaſie, welche
dieſelbe gegenbildlich darſtellt. Alſo ꝛc.

Erklärung. Im Verhältniß zur Phantaſie beſtimme ich Ein-
bildungskraft als das, worin die Produktionen der Kunſt empfangen
und ausgebildet werden, Phantaſie, was ſie äußerlich anſchaut, ſie aus
ſich hinauswirft gleichſam, inſofern auch darſtellt. Es iſt daſſelbe Ver-
hältniß zwiſchen Vernunft und intellektueller Anſchauung. In der Ver-
nunft und gleichſam vom Stoff der Vernunft werden die Ideen ge-
bildet, die intellektuelle Anſchauung iſt das innerlich Darſtellende.
Phantaſie alſo iſt die intellektuelle Anſchauung in der Kunſt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0071" n="395"/>
der Erzeuger &#x017F;elb&#x017F;t ent&#x017F;etzt und &#x017F;ie wieder in den Tartaros verbirgt.<lb/>
Das Chaos muß &#x017F;eine eignen Geburten wieder ver&#x017F;chlingen. Uranos,<lb/>
der &#x017F;eine Kinder birgt, muß verdrungen werden, es beginnt die Herr-<lb/>
&#x017F;chaft des Kronos. Aber auch Kronos noch ver&#x017F;chlingt &#x017F;eine eignen<lb/>
Kinder. Endlich beginnt das Reich des Zeus, aber auch die&#x017F;es nicht<lb/>
ohne vorhergegangene Zer&#x017F;törung. Jupiter muß die Cyclopen und die<lb/>
hundertarmigen Rie&#x017F;en befreien, damit &#x017F;ie ihm gegen Saturn und die<lb/>
Titanen bei&#x017F;tehen, und er&#x017F;t nachdem er die&#x017F;e Ungeheuer und die letzten<lb/>
Geburten der über die Schmach ihrer Kinder zürnenden Gäa, die him-<lb/>
mel&#x017F;türmenden Giganten und das Ungeheuer, an dem &#x017F;ie ihre letzten<lb/>
Kräfte ver&#x017F;chwendet, den Typhöeus be&#x017F;iegt hat, klärt &#x017F;ich der Himmel<lb/>
auf, Zeus nimmt ruhigen Be&#x017F;itz vom heitern Olymp, an die Stelle<lb/>
aller unbe&#x017F;timmten und formlo&#x017F;en Gottheiten treten be&#x017F;timmte, bezeich-<lb/>
nete Ge&#x017F;talten, an die Stelle des alten Okeanos Neptun, des Tartaros<lb/>
Pluto, an die Stelle des Titanen Helios der ewig jugendliche Apoll.<lb/>
Selb&#x017F;t der älte&#x017F;te aller Götter, Eros, den die älte&#x017F;te Dichtung zugleich<lb/>
mit dem Chaos &#x017F;eyn ließ, wird als Sohn der Venus und des Mars<lb/>
wieder geboren und eine begrenzte, bleibende Ge&#x017F;talt.</p><lb/>
            <p>§. 31. <hi rendition="#g">Die Welt der Götter i&#x017F;t kein Objekt weder des<lb/>
bloßen Ver&#x017F;tandes noch der Vernunft, &#x017F;ondern einzig mit<lb/>
der Phanta&#x017F;ie aufzufa&#x017F;&#x017F;en</hi>. &#x2014; Nicht des Ver&#x017F;tandes, denn die&#x017F;er<lb/>
haftet nur an der Begrenzung, nicht der Vernunft, denn die&#x017F;e kann<lb/>
auch in der <hi rendition="#g">Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft</hi> die Synthe&#x017F;e des Ab&#x017F;oluten und der Be-<lb/>
grenzung nur ideell (urbildlich) dar&#x017F;tellen; al&#x017F;o der Phanta&#x017F;ie, welche<lb/>
die&#x017F;elbe gegenbildlich dar&#x017F;tellt. Al&#x017F;o &#xA75B;c.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Erklärung</hi>. Im Verhältniß zur Phanta&#x017F;ie be&#x017F;timme ich Ein-<lb/>
bildungskraft als das, worin die Produktionen der Kun&#x017F;t empfangen<lb/>
und ausgebildet werden, Phanta&#x017F;ie, was &#x017F;ie äußerlich an&#x017F;chaut, &#x017F;ie aus<lb/>
&#x017F;ich hinauswirft gleich&#x017F;am, in&#x017F;ofern auch dar&#x017F;tellt. Es i&#x017F;t da&#x017F;&#x017F;elbe Ver-<lb/>
hältniß zwi&#x017F;chen Vernunft und intellektueller An&#x017F;chauung. In der Ver-<lb/>
nunft und gleich&#x017F;am vom Stoff der Vernunft werden die Ideen ge-<lb/>
bildet, die intellektuelle An&#x017F;chauung i&#x017F;t das innerlich Dar&#x017F;tellende.<lb/>
Phanta&#x017F;ie al&#x017F;o i&#x017F;t die intellektuelle An&#x017F;chauung in der Kun&#x017F;t.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[395/0071] der Erzeuger ſelbſt entſetzt und ſie wieder in den Tartaros verbirgt. Das Chaos muß ſeine eignen Geburten wieder verſchlingen. Uranos, der ſeine Kinder birgt, muß verdrungen werden, es beginnt die Herr- ſchaft des Kronos. Aber auch Kronos noch verſchlingt ſeine eignen Kinder. Endlich beginnt das Reich des Zeus, aber auch dieſes nicht ohne vorhergegangene Zerſtörung. Jupiter muß die Cyclopen und die hundertarmigen Rieſen befreien, damit ſie ihm gegen Saturn und die Titanen beiſtehen, und erſt nachdem er dieſe Ungeheuer und die letzten Geburten der über die Schmach ihrer Kinder zürnenden Gäa, die him- melſtürmenden Giganten und das Ungeheuer, an dem ſie ihre letzten Kräfte verſchwendet, den Typhöeus beſiegt hat, klärt ſich der Himmel auf, Zeus nimmt ruhigen Beſitz vom heitern Olymp, an die Stelle aller unbeſtimmten und formloſen Gottheiten treten beſtimmte, bezeich- nete Geſtalten, an die Stelle des alten Okeanos Neptun, des Tartaros Pluto, an die Stelle des Titanen Helios der ewig jugendliche Apoll. Selbſt der älteſte aller Götter, Eros, den die älteſte Dichtung zugleich mit dem Chaos ſeyn ließ, wird als Sohn der Venus und des Mars wieder geboren und eine begrenzte, bleibende Geſtalt. §. 31. Die Welt der Götter iſt kein Objekt weder des bloßen Verſtandes noch der Vernunft, ſondern einzig mit der Phantaſie aufzufaſſen. — Nicht des Verſtandes, denn dieſer haftet nur an der Begrenzung, nicht der Vernunft, denn dieſe kann auch in der Wiſſenſchaft die Syntheſe des Abſoluten und der Be- grenzung nur ideell (urbildlich) darſtellen; alſo der Phantaſie, welche dieſelbe gegenbildlich darſtellt. Alſo ꝛc. Erklärung. Im Verhältniß zur Phantaſie beſtimme ich Ein- bildungskraft als das, worin die Produktionen der Kunſt empfangen und ausgebildet werden, Phantaſie, was ſie äußerlich anſchaut, ſie aus ſich hinauswirft gleichſam, inſofern auch darſtellt. Es iſt daſſelbe Ver- hältniß zwiſchen Vernunft und intellektueller Anſchauung. In der Ver- nunft und gleichſam vom Stoff der Vernunft werden die Ideen ge- bildet, die intellektuelle Anſchauung iſt das innerlich Darſtellende. Phantaſie alſo iſt die intellektuelle Anſchauung in der Kunſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/71
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/71>, abgerufen am 21.11.2024.