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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Wie uns schon in der Natur die Wiederkehr desselben Gegensatzes
in verschiedenen Potenzen in Verwirrung setzt, wenn wir das allgemeine
Gesetz derselben nicht kennen, so noch viel mehr in der Geschichte und
dem, was uns der Freiheit anzugehören scheint. Wir würden auch
ohne alle anderen Gründe schon bloß durch die Wirklichkeit uns ge-
nöthigt sehen, anzunehmen, daß auch in der Kunst selbst -- der
höchsten Vereinigung von Natur und Freiheit -- wieder dieser Ge-
gensatz der Natur und Freiheit und der des Unendlichen und End-
lichen zurückkehre, und wir bedürfen einer festen Norm, eines aus der
Vernunft selbst entworfenen Typus, um die Nothwendigkeit dieser Wie-
derkehr zu begreifen. Der bloße Weg der Erklärung führt überhaupt
und in nichts zur wahren Erkenntniß. Die Wissenschaft erklärt nicht;
unbekümmert, welche Gegenstände aus ihrem rein wissenschaftlichen
Handeln hervorgehen mögen, construirt sie; allein eben bei diesem
Verfahren wird sie am Ende mit der vollkommenen und geschlossenen
Totalität überrascht; die Gegenstände treten unmittelbar, durch die
Construktion selbst, an ihre wahre Stelle, und diese Stelle, die sie in
der Construktion erhalten, ist zugleich ihre einzig wahre und richtige
Erklärung. Es braucht nun nicht weiter von der gegebenen Erschei-
nung auf ihre Ursache zurückgeschlossen zu werden; sie ist diese bestimmte,
weil sie in diese Stelle tritt, und umgekehrt, sie nimmt diese Stelle
ein, weil sie diese bestimmte ist. Nur bei solchem Verfahren ist Noth-
wendigkeit.

Die griechische Mythologie, um jetzt die nähere Anwendung auf
unsern Gegenstand zu machen, könnte von allen Seiten betrachtet und
als eine gegebene Erscheinung nach allen Rücksichten erklärt werden,
ohne Zweifel würde auch die Erklärung zu derselben Ansicht zurück-
führen, welche uns die Construktion gegeben hat -- (denn dieß ist eben
auch ein Vorzug der Construktion, daß sie das mit der Vernunft anti-
cipirt, worauf die richtig angestellte Erklärung am Ende zurück führt),
aber immer würde bei diesem Verfahren noch etwas fehlen, die Ein-
sicht der Nothwendigkeit und des allgemeinen Zusammenhangs, der für
diese Erscheinung gerade diese Stelle und diesen Grund bestimmt. Der

Wie uns ſchon in der Natur die Wiederkehr deſſelben Gegenſatzes
in verſchiedenen Potenzen in Verwirrung ſetzt, wenn wir das allgemeine
Geſetz derſelben nicht kennen, ſo noch viel mehr in der Geſchichte und
dem, was uns der Freiheit anzugehören ſcheint. Wir würden auch
ohne alle anderen Gründe ſchon bloß durch die Wirklichkeit uns ge-
nöthigt ſehen, anzunehmen, daß auch in der Kunſt ſelbſt — der
höchſten Vereinigung von Natur und Freiheit — wieder dieſer Ge-
genſatz der Natur und Freiheit und der des Unendlichen und End-
lichen zurückkehre, und wir bedürfen einer feſten Norm, eines aus der
Vernunft ſelbſt entworfenen Typus, um die Nothwendigkeit dieſer Wie-
derkehr zu begreifen. Der bloße Weg der Erklärung führt überhaupt
und in nichts zur wahren Erkenntniß. Die Wiſſenſchaft erklärt nicht;
unbekümmert, welche Gegenſtände aus ihrem rein wiſſenſchaftlichen
Handeln hervorgehen mögen, conſtruirt ſie; allein eben bei dieſem
Verfahren wird ſie am Ende mit der vollkommenen und geſchloſſenen
Totalität überraſcht; die Gegenſtände treten unmittelbar, durch die
Conſtruktion ſelbſt, an ihre wahre Stelle, und dieſe Stelle, die ſie in
der Conſtruktion erhalten, iſt zugleich ihre einzig wahre und richtige
Erklärung. Es braucht nun nicht weiter von der gegebenen Erſchei-
nung auf ihre Urſache zurückgeſchloſſen zu werden; ſie iſt dieſe beſtimmte,
weil ſie in dieſe Stelle tritt, und umgekehrt, ſie nimmt dieſe Stelle
ein, weil ſie dieſe beſtimmte iſt. Nur bei ſolchem Verfahren iſt Noth-
wendigkeit.

Die griechiſche Mythologie, um jetzt die nähere Anwendung auf
unſern Gegenſtand zu machen, könnte von allen Seiten betrachtet und
als eine gegebene Erſcheinung nach allen Rückſichten erklärt werden,
ohne Zweifel würde auch die Erklärung zu derſelben Anſicht zurück-
führen, welche uns die Conſtruktion gegeben hat — (denn dieß iſt eben
auch ein Vorzug der Conſtruktion, daß ſie das mit der Vernunft anti-
cipirt, worauf die richtig angeſtellte Erklärung am Ende zurück führt),
aber immer würde bei dieſem Verfahren noch etwas fehlen, die Ein-
ſicht der Nothwendigkeit und des allgemeinen Zuſammenhangs, der für
dieſe Erſcheinung gerade dieſe Stelle und dieſen Grund beſtimmt. Der

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[418/0094] Wie uns ſchon in der Natur die Wiederkehr deſſelben Gegenſatzes in verſchiedenen Potenzen in Verwirrung ſetzt, wenn wir das allgemeine Geſetz derſelben nicht kennen, ſo noch viel mehr in der Geſchichte und dem, was uns der Freiheit anzugehören ſcheint. Wir würden auch ohne alle anderen Gründe ſchon bloß durch die Wirklichkeit uns ge- nöthigt ſehen, anzunehmen, daß auch in der Kunſt ſelbſt — der höchſten Vereinigung von Natur und Freiheit — wieder dieſer Ge- genſatz der Natur und Freiheit und der des Unendlichen und End- lichen zurückkehre, und wir bedürfen einer feſten Norm, eines aus der Vernunft ſelbſt entworfenen Typus, um die Nothwendigkeit dieſer Wie- derkehr zu begreifen. Der bloße Weg der Erklärung führt überhaupt und in nichts zur wahren Erkenntniß. Die Wiſſenſchaft erklärt nicht; unbekümmert, welche Gegenſtände aus ihrem rein wiſſenſchaftlichen Handeln hervorgehen mögen, conſtruirt ſie; allein eben bei dieſem Verfahren wird ſie am Ende mit der vollkommenen und geſchloſſenen Totalität überraſcht; die Gegenſtände treten unmittelbar, durch die Conſtruktion ſelbſt, an ihre wahre Stelle, und dieſe Stelle, die ſie in der Conſtruktion erhalten, iſt zugleich ihre einzig wahre und richtige Erklärung. Es braucht nun nicht weiter von der gegebenen Erſchei- nung auf ihre Urſache zurückgeſchloſſen zu werden; ſie iſt dieſe beſtimmte, weil ſie in dieſe Stelle tritt, und umgekehrt, ſie nimmt dieſe Stelle ein, weil ſie dieſe beſtimmte iſt. Nur bei ſolchem Verfahren iſt Noth- wendigkeit. Die griechiſche Mythologie, um jetzt die nähere Anwendung auf unſern Gegenſtand zu machen, könnte von allen Seiten betrachtet und als eine gegebene Erſcheinung nach allen Rückſichten erklärt werden, ohne Zweifel würde auch die Erklärung zu derſelben Anſicht zurück- führen, welche uns die Conſtruktion gegeben hat — (denn dieß iſt eben auch ein Vorzug der Conſtruktion, daß ſie das mit der Vernunft anti- cipirt, worauf die richtig angeſtellte Erklärung am Ende zurück führt), aber immer würde bei dieſem Verfahren noch etwas fehlen, die Ein- ſicht der Nothwendigkeit und des allgemeinen Zuſammenhangs, der für dieſe Erſcheinung gerade dieſe Stelle und dieſen Grund beſtimmt. Der

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/94>, abgerufen am 24.11.2024.