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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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beruhen, so wird dasselbe nothwendig auch von der griechischen Poesie
gelten. Wenn wir daher behaupten, daß Endlichkeit, Begrenzung das
Grundgesetz aller griechischen Bildung sey, so ist damit nicht behauptet,
daß in ihr überall kein Regen des Entgegengesetzten, des Unendlichen
wahrnehmbar sey. Es läßt sich vielmehr der Punkt sehr bestimmt be-
zeichnen, bei welchem es entschieden hervortrat. Ohne Zweifel war es
der Zeitpunkt des entstehenden Republikanismus, mit welchem auch der
Ursprung vorzüglich der lyrischen Kunst und der Tragödie als gleich-
zeitig angenommen werden kann 1. Aber eben dieß ist der auffallendste
Beweis, daß diese entschiedenere und bis zu einer gewissen Aeußerung
durchgedrungene Regung des Unendlichen in der griechischen Bildung
durchaus nachhomerisch ist. Nicht als ob nicht früher schon in Grie-
chenland unmittelbarer aufs Unendliche sich beziehende Gebräuche und
religiöse Handlungen gewesen wären, sie schlossen sich gleich ursprüng-
lich als Mysterien von dem Allgemeingültigen und der Mythologie ab.
Es sollte nicht schwer fallen, zu beweisen, daß alle mystischen Elemente
-- so will ich bis zur näheren Erklärung vorläufig alle sich unmittelbar
auf das Unendliche beziehenden Begriffe nennen -- daß alle solche Ele-
mente der hellenischen Bildung ursprünglich fremd waren, sowie sie sich
selbige auch späterhin nur in der Philosophie aneignen konnte.

Die ersten Regungen der Philosophie, deren Beginn überall der
Begriff des Unendlichen ist, zeigten sich selbst zuerst in mystischen Ge-
dichten, dergleichen die von Platon und Aristoteles erwähnten orphischen
Lieder, die Gedichte des Musäos, die zahlreichen Poeme des Sehers
und Philosophen Epimenides. Jemehr sich in der griechischen Bildung
das Princip des Unendlichen entwickelte, desto mehr bestrebte man sich,
dieser mystischen Poesie ein höheres Ansehen des Alters zu geben und
ihren Ursprung selbst über das Zeitalter Homers hinaus zu rücken.
Allein schon Herodotos widerspricht dem, wenn er sagt, daß alle Dich-
ter, die für älter ausgegeben werden als Homeros und Hesiodos, jünger
seyen. Homer kennt keine Orgien, keinen Enthusiasmus im Sinne der
Priester und der Philosophen.

1 Fr. Schlegels Geschichte der Poesie der Griechen und Römer, S. 24.

beruhen, ſo wird daſſelbe nothwendig auch von der griechiſchen Poeſie
gelten. Wenn wir daher behaupten, daß Endlichkeit, Begrenzung das
Grundgeſetz aller griechiſchen Bildung ſey, ſo iſt damit nicht behauptet,
daß in ihr überall kein Regen des Entgegengeſetzten, des Unendlichen
wahrnehmbar ſey. Es läßt ſich vielmehr der Punkt ſehr beſtimmt be-
zeichnen, bei welchem es entſchieden hervortrat. Ohne Zweifel war es
der Zeitpunkt des entſtehenden Republikanismus, mit welchem auch der
Urſprung vorzüglich der lyriſchen Kunſt und der Tragödie als gleich-
zeitig angenommen werden kann 1. Aber eben dieß iſt der auffallendſte
Beweis, daß dieſe entſchiedenere und bis zu einer gewiſſen Aeußerung
durchgedrungene Regung des Unendlichen in der griechiſchen Bildung
durchaus nachhomeriſch iſt. Nicht als ob nicht früher ſchon in Grie-
chenland unmittelbarer aufs Unendliche ſich beziehende Gebräuche und
religiöſe Handlungen geweſen wären, ſie ſchloſſen ſich gleich urſprüng-
lich als Myſterien von dem Allgemeingültigen und der Mythologie ab.
Es ſollte nicht ſchwer fallen, zu beweiſen, daß alle myſtiſchen Elemente
— ſo will ich bis zur näheren Erklärung vorläufig alle ſich unmittelbar
auf das Unendliche beziehenden Begriffe nennen — daß alle ſolche Ele-
mente der helleniſchen Bildung urſprünglich fremd waren, ſowie ſie ſich
ſelbige auch ſpäterhin nur in der Philoſophie aneignen konnte.

Die erſten Regungen der Philoſophie, deren Beginn überall der
Begriff des Unendlichen iſt, zeigten ſich ſelbſt zuerſt in myſtiſchen Ge-
dichten, dergleichen die von Platon und Ariſtoteles erwähnten orphiſchen
Lieder, die Gedichte des Muſäos, die zahlreichen Poeme des Sehers
und Philoſophen Epimenides. Jemehr ſich in der griechiſchen Bildung
das Princip des Unendlichen entwickelte, deſto mehr beſtrebte man ſich,
dieſer myſtiſchen Poeſie ein höheres Anſehen des Alters zu geben und
ihren Urſprung ſelbſt über das Zeitalter Homers hinaus zu rücken.
Allein ſchon Herodotos widerſpricht dem, wenn er ſagt, daß alle Dich-
ter, die für älter ausgegeben werden als Homeros und Heſiodos, jünger
ſeyen. Homer kennt keine Orgien, keinen Enthuſiasmus im Sinne der
Prieſter und der Philoſophen.

1 Fr. Schlegels Geſchichte der Poeſie der Griechen und Römer, S. 24.
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[421/0097] beruhen, ſo wird daſſelbe nothwendig auch von der griechiſchen Poeſie gelten. Wenn wir daher behaupten, daß Endlichkeit, Begrenzung das Grundgeſetz aller griechiſchen Bildung ſey, ſo iſt damit nicht behauptet, daß in ihr überall kein Regen des Entgegengeſetzten, des Unendlichen wahrnehmbar ſey. Es läßt ſich vielmehr der Punkt ſehr beſtimmt be- zeichnen, bei welchem es entſchieden hervortrat. Ohne Zweifel war es der Zeitpunkt des entſtehenden Republikanismus, mit welchem auch der Urſprung vorzüglich der lyriſchen Kunſt und der Tragödie als gleich- zeitig angenommen werden kann 1. Aber eben dieß iſt der auffallendſte Beweis, daß dieſe entſchiedenere und bis zu einer gewiſſen Aeußerung durchgedrungene Regung des Unendlichen in der griechiſchen Bildung durchaus nachhomeriſch iſt. Nicht als ob nicht früher ſchon in Grie- chenland unmittelbarer aufs Unendliche ſich beziehende Gebräuche und religiöſe Handlungen geweſen wären, ſie ſchloſſen ſich gleich urſprüng- lich als Myſterien von dem Allgemeingültigen und der Mythologie ab. Es ſollte nicht ſchwer fallen, zu beweiſen, daß alle myſtiſchen Elemente — ſo will ich bis zur näheren Erklärung vorläufig alle ſich unmittelbar auf das Unendliche beziehenden Begriffe nennen — daß alle ſolche Ele- mente der helleniſchen Bildung urſprünglich fremd waren, ſowie ſie ſich ſelbige auch ſpäterhin nur in der Philoſophie aneignen konnte. Die erſten Regungen der Philoſophie, deren Beginn überall der Begriff des Unendlichen iſt, zeigten ſich ſelbſt zuerſt in myſtiſchen Ge- dichten, dergleichen die von Platon und Ariſtoteles erwähnten orphiſchen Lieder, die Gedichte des Muſäos, die zahlreichen Poeme des Sehers und Philoſophen Epimenides. Jemehr ſich in der griechiſchen Bildung das Princip des Unendlichen entwickelte, deſto mehr beſtrebte man ſich, dieſer myſtiſchen Poeſie ein höheres Anſehen des Alters zu geben und ihren Urſprung ſelbſt über das Zeitalter Homers hinaus zu rücken. Allein ſchon Herodotos widerſpricht dem, wenn er ſagt, daß alle Dich- ter, die für älter ausgegeben werden als Homeros und Heſiodos, jünger ſeyen. Homer kennt keine Orgien, keinen Enthuſiasmus im Sinne der Prieſter und der Philoſophen. 1 Fr. Schlegels Geſchichte der Poeſie der Griechen und Römer, S. 24.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/97>, abgerufen am 21.11.2024.