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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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So wenig bedeutend aber diese mystischen Elemente für die Ge-
schichte der hellenischen Poesie waren, so merkwürdig sind sie doch uns
als die Regungen des entgegengesetzten Pols in der griechischen Bil-
dung, und wenn wir den Gegensatz, an seinem höchsten Punkte ange-
faßt, als Christenthum und Heidenthum bezeichnen, so deuten sie uns
im Heidenthum Elemente des Christenthums an, wie wir dagegen im
Christenthum gleiche Elemente des Heidenthums nachweisen können.

Sieht man auf das Wesen der griechischen Dichtungen, so hat
sich in ihnen Endliches und Unendliches so durchdrungen, daß man in
ihnen kein Symbolisiren des einen durch das andere, sondern nur das
absolute Gleichsetzen beider wahrnehmen kann. Sieht man aber auf die
Form, so ist jene ganze Ineinsbildung des Unendlichen und End-
lichen wieder im Endlichen oder im Besonderen dargestellt. Da nun,
wo die Einbildungskraft nicht bis zur völligen Wechseldurchdringung
beider ging, konnten nur die zwei Fälle stattfinden, daß entweder
das Unendliche durch das Endliche, oder das Endliche durch das Un-
endliche symbolisirt wurde. Das Letzte war der Fall des Orientalen.
Der Grieche zog nicht das einseitig-Unendliche, sondern das schon mit
dem Endlichen durchdrungene Unendliche, d. h. das ganze Göttliche,
das Göttliche, sofern es Allheit ist, herab in die Endlichkeit. Die
griechische Poesie ist insofern die absolute, und hat als Indifferenz-
punkt keinen Gegensatz außer sich. Der Orientale war überall nicht
bis zur Durchdringung selbst gekommen; nicht nur also, daß in seiner
Mythologie Gestalten von wahrhaft unabhängigem poetischem Leben
unmöglich sind, seine ganze Symbolik ist auch noch einseitig, nämlich
Symbolik des Endlichen durch das Unendliche; er ist daher mit seiner
Einbildungskraft ganz in der übersinnlichen oder Intellektualwelt, wohin
er auch die Natur versetzt, statt umgekehrt die Intellektualwelt -- als
die, worin Endliches und Unendliches eins sind -- durch die Natur zu
symbolisiren und so ins Reich des Endlichen zu versetzen, und insofern
kann man wirklich sagen, daß seine Poesie das Umgekehrte der grie-
chischen ist.

Wenn wir unter dem Unendlichen das absolut Unendliche, demnach

So wenig bedeutend aber dieſe myſtiſchen Elemente für die Ge-
ſchichte der helleniſchen Poeſie waren, ſo merkwürdig ſind ſie doch uns
als die Regungen des entgegengeſetzten Pols in der griechiſchen Bil-
dung, und wenn wir den Gegenſatz, an ſeinem höchſten Punkte ange-
faßt, als Chriſtenthum und Heidenthum bezeichnen, ſo deuten ſie uns
im Heidenthum Elemente des Chriſtenthums an, wie wir dagegen im
Chriſtenthum gleiche Elemente des Heidenthums nachweiſen können.

Sieht man auf das Weſen der griechiſchen Dichtungen, ſo hat
ſich in ihnen Endliches und Unendliches ſo durchdrungen, daß man in
ihnen kein Symboliſiren des einen durch das andere, ſondern nur das
abſolute Gleichſetzen beider wahrnehmen kann. Sieht man aber auf die
Form, ſo iſt jene ganze Ineinsbildung des Unendlichen und End-
lichen wieder im Endlichen oder im Beſonderen dargeſtellt. Da nun,
wo die Einbildungskraft nicht bis zur völligen Wechſeldurchdringung
beider ging, konnten nur die zwei Fälle ſtattfinden, daß entweder
das Unendliche durch das Endliche, oder das Endliche durch das Un-
endliche ſymboliſirt wurde. Das Letzte war der Fall des Orientalen.
Der Grieche zog nicht das einſeitig-Unendliche, ſondern das ſchon mit
dem Endlichen durchdrungene Unendliche, d. h. das ganze Göttliche,
das Göttliche, ſofern es Allheit iſt, herab in die Endlichkeit. Die
griechiſche Poeſie iſt inſofern die abſolute, und hat als Indifferenz-
punkt keinen Gegenſatz außer ſich. Der Orientale war überall nicht
bis zur Durchdringung ſelbſt gekommen; nicht nur alſo, daß in ſeiner
Mythologie Geſtalten von wahrhaft unabhängigem poetiſchem Leben
unmöglich ſind, ſeine ganze Symbolik iſt auch noch einſeitig, nämlich
Symbolik des Endlichen durch das Unendliche; er iſt daher mit ſeiner
Einbildungskraft ganz in der überſinnlichen oder Intellektualwelt, wohin
er auch die Natur verſetzt, ſtatt umgekehrt die Intellektualwelt — als
die, worin Endliches und Unendliches eins ſind — durch die Natur zu
ſymboliſiren und ſo ins Reich des Endlichen zu verſetzen, und inſofern
kann man wirklich ſagen, daß ſeine Poeſie das Umgekehrte der grie-
chiſchen iſt.

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[422/0098] So wenig bedeutend aber dieſe myſtiſchen Elemente für die Ge- ſchichte der helleniſchen Poeſie waren, ſo merkwürdig ſind ſie doch uns als die Regungen des entgegengeſetzten Pols in der griechiſchen Bil- dung, und wenn wir den Gegenſatz, an ſeinem höchſten Punkte ange- faßt, als Chriſtenthum und Heidenthum bezeichnen, ſo deuten ſie uns im Heidenthum Elemente des Chriſtenthums an, wie wir dagegen im Chriſtenthum gleiche Elemente des Heidenthums nachweiſen können. Sieht man auf das Weſen der griechiſchen Dichtungen, ſo hat ſich in ihnen Endliches und Unendliches ſo durchdrungen, daß man in ihnen kein Symboliſiren des einen durch das andere, ſondern nur das abſolute Gleichſetzen beider wahrnehmen kann. Sieht man aber auf die Form, ſo iſt jene ganze Ineinsbildung des Unendlichen und End- lichen wieder im Endlichen oder im Beſonderen dargeſtellt. Da nun, wo die Einbildungskraft nicht bis zur völligen Wechſeldurchdringung beider ging, konnten nur die zwei Fälle ſtattfinden, daß entweder das Unendliche durch das Endliche, oder das Endliche durch das Un- endliche ſymboliſirt wurde. Das Letzte war der Fall des Orientalen. Der Grieche zog nicht das einſeitig-Unendliche, ſondern das ſchon mit dem Endlichen durchdrungene Unendliche, d. h. das ganze Göttliche, das Göttliche, ſofern es Allheit iſt, herab in die Endlichkeit. Die griechiſche Poeſie iſt inſofern die abſolute, und hat als Indifferenz- punkt keinen Gegenſatz außer ſich. Der Orientale war überall nicht bis zur Durchdringung ſelbſt gekommen; nicht nur alſo, daß in ſeiner Mythologie Geſtalten von wahrhaft unabhängigem poetiſchem Leben unmöglich ſind, ſeine ganze Symbolik iſt auch noch einſeitig, nämlich Symbolik des Endlichen durch das Unendliche; er iſt daher mit ſeiner Einbildungskraft ganz in der überſinnlichen oder Intellektualwelt, wohin er auch die Natur verſetzt, ſtatt umgekehrt die Intellektualwelt — als die, worin Endliches und Unendliches eins ſind — durch die Natur zu ſymboliſiren und ſo ins Reich des Endlichen zu verſetzen, und inſofern kann man wirklich ſagen, daß ſeine Poeſie das Umgekehrte der grie- chiſchen iſt. Wenn wir unter dem Unendlichen das abſolut Unendliche, demnach

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/98>, abgerufen am 24.11.2024.