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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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die vollkommene Ineinsbildung des Unendlichen und Endlichen ver-
stehen, so ging die Richtung der griechischen Phantasie vom Unendlichen
oder Ewigen zum Endlichen, die der orientalischen dagegen vom End-
lichen zum Unendlichen, aber so, daß in der Idee des Unendlichen die
Entzweiung nicht nothwendig aufgehoben war. Vielleicht ist dieß am
bestimmtesten darzustellen an der persischen Lehre, soweit sie aus den
Zendbüchern und andern Quellen bekannt ist. Die persische und indische
Mythologie aber sind unter den idealistischen Mythologien ohne Zweifel
die berühmtesten. Es wäre ungeschickt, auf die indische Mythologie
dasselbe anwenden zu wollen, was von der griechischen (realistischen) gilt,
und die Forderung zu machen, ihre Gestalten unabhängig, an sich,
rein als das, was sie sind, zu betrachten. Von der andern Seite ist
aber nicht zu leugnen, daß die indische Mythologie der poetischen Be-
deutung mehr als die persische sich genähert hat. Wenn diese in allen
ihren Bildungen bloßer Schematismus bleibt, so erhebt sich jene wenig-
stens zur allegorischen, und das Allegorische ist das herrschende poetische
Princip in ihr. Daher die Leichtigkeit oberflächlich poetischer Köpfe,
sie sich anzueignen. Zum Symbolischen geht es nicht. Allein da sie
doch wenigstens durch Allegorie poetisch ist, so konnte in der weiteren
Ausbildung der allegorischen Seite allerdings wahre Poesie entstehen,
so daß die indische Bildung Werke ächter Dichtkunst aufzuweisen hat.
Der Grund oder Stamm ist unpoetisch; das aber, was gleichsam un-
abhängig von diesem sich für sich selbst gebildet hat, ist poetisch. Die
herrschende Farbe auch der dramatischen Gedichte der Indier, z. B. der
Sakontala und des Sehnsucht- und Wollust-athmenden Gedichts der
Gita-Govin, ist die lyrisch-epische. Diese Gedichte sind für sich nicht
allegorisch, und wenn etwa die Liebschaften und die Wandelbarkeit des
Gottes Krischna (welche das Sujet des zuletzt angeführten Gedichtes ist)
ursprünglich allegorische Bedeutung hatten, so haben sie solche wenig-
stens in diesem Gedicht verloren. Aber obgleich diese Werke wenigstens
als Ganzes nicht allegorisch sind, so ist doch die innere Construktion
derselben ganz im Geiste der Allegorie. Man kann allerdings nicht
wissen, wie weit die Poesie der Indier sich zur Kunst gebildet hätte,

die vollkommene Ineinsbildung des Unendlichen und Endlichen ver-
ſtehen, ſo ging die Richtung der griechiſchen Phantaſie vom Unendlichen
oder Ewigen zum Endlichen, die der orientaliſchen dagegen vom End-
lichen zum Unendlichen, aber ſo, daß in der Idee des Unendlichen die
Entzweiung nicht nothwendig aufgehoben war. Vielleicht iſt dieß am
beſtimmteſten darzuſtellen an der perſiſchen Lehre, ſoweit ſie aus den
Zendbüchern und andern Quellen bekannt iſt. Die perſiſche und indiſche
Mythologie aber ſind unter den idealiſtiſchen Mythologien ohne Zweifel
die berühmteſten. Es wäre ungeſchickt, auf die indiſche Mythologie
daſſelbe anwenden zu wollen, was von der griechiſchen (realiſtiſchen) gilt,
und die Forderung zu machen, ihre Geſtalten unabhängig, an ſich,
rein als das, was ſie ſind, zu betrachten. Von der andern Seite iſt
aber nicht zu leugnen, daß die indiſche Mythologie der poetiſchen Be-
deutung mehr als die perſiſche ſich genähert hat. Wenn dieſe in allen
ihren Bildungen bloßer Schematismus bleibt, ſo erhebt ſich jene wenig-
ſtens zur allegoriſchen, und das Allegoriſche iſt das herrſchende poetiſche
Princip in ihr. Daher die Leichtigkeit oberflächlich poetiſcher Köpfe,
ſie ſich anzueignen. Zum Symboliſchen geht es nicht. Allein da ſie
doch wenigſtens durch Allegorie poetiſch iſt, ſo konnte in der weiteren
Ausbildung der allegoriſchen Seite allerdings wahre Poeſie entſtehen,
ſo daß die indiſche Bildung Werke ächter Dichtkunſt aufzuweiſen hat.
Der Grund oder Stamm iſt unpoetiſch; das aber, was gleichſam un-
abhängig von dieſem ſich für ſich ſelbſt gebildet hat, iſt poetiſch. Die
herrſchende Farbe auch der dramatiſchen Gedichte der Indier, z. B. der
Sakontala und des Sehnſucht- und Wolluſt-athmenden Gedichts der
Gita-Govin, iſt die lyriſch-epiſche. Dieſe Gedichte ſind für ſich nicht
allegoriſch, und wenn etwa die Liebſchaften und die Wandelbarkeit des
Gottes Kriſchna (welche das Sujet des zuletzt angeführten Gedichtes iſt)
urſprünglich allegoriſche Bedeutung hatten, ſo haben ſie ſolche wenig-
ſtens in dieſem Gedicht verloren. Aber obgleich dieſe Werke wenigſtens
als Ganzes nicht allegoriſch ſind, ſo iſt doch die innere Conſtruktion
derſelben ganz im Geiſte der Allegorie. Man kann allerdings nicht
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[423/0099] die vollkommene Ineinsbildung des Unendlichen und Endlichen ver- ſtehen, ſo ging die Richtung der griechiſchen Phantaſie vom Unendlichen oder Ewigen zum Endlichen, die der orientaliſchen dagegen vom End- lichen zum Unendlichen, aber ſo, daß in der Idee des Unendlichen die Entzweiung nicht nothwendig aufgehoben war. Vielleicht iſt dieß am beſtimmteſten darzuſtellen an der perſiſchen Lehre, ſoweit ſie aus den Zendbüchern und andern Quellen bekannt iſt. Die perſiſche und indiſche Mythologie aber ſind unter den idealiſtiſchen Mythologien ohne Zweifel die berühmteſten. Es wäre ungeſchickt, auf die indiſche Mythologie daſſelbe anwenden zu wollen, was von der griechiſchen (realiſtiſchen) gilt, und die Forderung zu machen, ihre Geſtalten unabhängig, an ſich, rein als das, was ſie ſind, zu betrachten. Von der andern Seite iſt aber nicht zu leugnen, daß die indiſche Mythologie der poetiſchen Be- deutung mehr als die perſiſche ſich genähert hat. Wenn dieſe in allen ihren Bildungen bloßer Schematismus bleibt, ſo erhebt ſich jene wenig- ſtens zur allegoriſchen, und das Allegoriſche iſt das herrſchende poetiſche Princip in ihr. Daher die Leichtigkeit oberflächlich poetiſcher Köpfe, ſie ſich anzueignen. Zum Symboliſchen geht es nicht. Allein da ſie doch wenigſtens durch Allegorie poetiſch iſt, ſo konnte in der weiteren Ausbildung der allegoriſchen Seite allerdings wahre Poeſie entſtehen, ſo daß die indiſche Bildung Werke ächter Dichtkunſt aufzuweiſen hat. Der Grund oder Stamm iſt unpoetiſch; das aber, was gleichſam un- abhängig von dieſem ſich für ſich ſelbſt gebildet hat, iſt poetiſch. Die herrſchende Farbe auch der dramatiſchen Gedichte der Indier, z. B. der Sakontala und des Sehnſucht- und Wolluſt-athmenden Gedichts der Gita-Govin, iſt die lyriſch-epiſche. Dieſe Gedichte ſind für ſich nicht allegoriſch, und wenn etwa die Liebſchaften und die Wandelbarkeit des Gottes Kriſchna (welche das Sujet des zuletzt angeführten Gedichtes iſt) urſprünglich allegoriſche Bedeutung hatten, ſo haben ſie ſolche wenig- ſtens in dieſem Gedicht verloren. Aber obgleich dieſe Werke wenigſtens als Ganzes nicht allegoriſch ſind, ſo iſt doch die innere Conſtruktion derſelben ganz im Geiſte der Allegorie. Man kann allerdings nicht wiſſen, wie weit die Poeſie der Indier ſich zur Kunſt gebildet hätte,

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/99>, abgerufen am 21.11.2024.