Mensch Christus ist in der Erscheinung nur der Gipfel und in so fern auch wieder der Anfang derselben, denn von ihm aus sollte sie dadurch sich fortsetzen, daß alle seine Nach¬ folger Glieder eines und desselben Leibes wä¬ ren, von dem er das Haupt ist. Daß in Christo zuerst Gott wahrhaft objectiv gewor¬ den, zeugt die Geschichte, denn wer vor ihm hat das Unendliche auf solche Weise ge¬ offenbaret?
Es möchte sich beweisen lassen, daß so weit die historische Kenntniß nur immer zu¬ rückgeht, schon zwey bestimmt verschiedene Ströme von Religion und Poesie unterscheid¬ bar sind: der Eine, welcher, schon in der Indischen Religion der herrschende, das In¬ tellectualsystem und den ältesten Idealismus überliefert hat, der Andere, welcher die rea¬ listische Ansicht der Welt in sich faßte. Jener hat, nachdem er durch den ganzen Orient geflossen, im Christenthum sein bleibendes Beet gefunden, und mit dem für sich unfrucht¬ baren Boden des Occidents vermischt, die
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Menſch Chriſtus iſt in der Erſcheinung nur der Gipfel und in ſo fern auch wieder der Anfang derſelben, denn von ihm aus ſollte ſie dadurch ſich fortſetzen, daß alle ſeine Nach¬ folger Glieder eines und deſſelben Leibes waͤ¬ ren, von dem er das Haupt iſt. Daß in Chriſto zuerſt Gott wahrhaft objectiv gewor¬ den, zeugt die Geſchichte, denn wer vor ihm hat das Unendliche auf ſolche Weiſe ge¬ offenbaret?
Es moͤchte ſich beweiſen laſſen, daß ſo weit die hiſtoriſche Kenntniß nur immer zu¬ ruͤckgeht, ſchon zwey beſtimmt verſchiedene Stroͤme von Religion und Poeſie unterſcheid¬ bar ſind: der Eine, welcher, ſchon in der Indiſchen Religion der herrſchende, das In¬ tellectualſyſtem und den aͤlteſten Idealismus uͤberliefert hat, der Andere, welcher die rea¬ liſtiſche Anſicht der Welt in ſich faßte. Jener hat, nachdem er durch den ganzen Orient gefloſſen, im Chriſtenthum ſein bleibendes Beet gefunden, und mit dem fuͤr ſich unfrucht¬ baren Boden des Occidents vermiſcht, die
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Menſch Chriſtus iſt in der Erſcheinung nur
der Gipfel und in ſo fern auch wieder der
Anfang derſelben, denn von ihm aus ſollte
ſie dadurch ſich fortſetzen, daß alle ſeine Nach¬
folger Glieder eines und deſſelben Leibes waͤ¬
ren, von dem er das Haupt iſt. Daß in
Chriſto zuerſt Gott wahrhaft objectiv gewor¬
den, zeugt die Geſchichte, denn wer vor
ihm hat das Unendliche auf ſolche Weiſe ge¬
offenbaret?
Es moͤchte ſich beweiſen laſſen, daß ſo
weit die hiſtoriſche Kenntniß nur immer zu¬
ruͤckgeht, ſchon zwey beſtimmt verſchiedene
Stroͤme von Religion und Poeſie unterſcheid¬
bar ſind: der Eine, welcher, ſchon in der
Indiſchen Religion der herrſchende, das In¬
tellectualſyſtem und den aͤlteſten Idealismus
uͤberliefert hat, der Andere, welcher die rea¬
liſtiſche Anſicht der Welt in ſich faßte. Jener
hat, nachdem er durch den ganzen Orient
gefloſſen, im Chriſtenthum ſein bleibendes
Beet gefunden, und mit dem fuͤr ſich unfrucht¬
baren Boden des Occidents vermiſcht, die
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 1803, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803/202>, abgerufen am 24.11.2024.
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