gehende angewandte Logik. Alle wissenschaft¬ liche Bildung besteht in der Fertigkeit, die Möglichkeiten zu erkennen, da im Gegentheil das gemeine Wissen nur Wirklichkeiten begreift. Der Physiker, wenn er erkannt hat, daß unter gewissen Bedingungen eine Erscheinung wahr¬ haft möglich sey, hat auch erkannt, daß sie wirklich ist. Das Studium der Sprache als Auslegung, vorzüglich aber als Verbesserung der Lesart durch Conjectur, übt dieses Er¬ kennen der Möglichkeiten auf eine dem Kna¬ benalter angemessene Art, wie es noch im männ¬ lichen Alter auch einen knabenhaft bleibenden Sinn angenehm beschäftigen kann.
Es ist unmittelbare Bildung des Sinns, aus einer für uns erstorbenen Rede den lebendi¬ gen Geist zu erkennen, und es findet darin kein anderes Verhältniß statt, als welches auch der Naturforscher zu der Natur hat. Die Natur ist für uns ein uralter Autor, der in Hierogly¬ phen geschrieben hat, dessen Blätter colossal sind, wie der Künstler bey Göthe sagt. Eben der¬
gehende angewandte Logik. Alle wiſſenſchaft¬ liche Bildung beſteht in der Fertigkeit, die Moͤglichkeiten zu erkennen, da im Gegentheil das gemeine Wiſſen nur Wirklichkeiten begreift. Der Phyſiker, wenn er erkannt hat, daß unter gewiſſen Bedingungen eine Erſcheinung wahr¬ haft moͤglich ſey, hat auch erkannt, daß ſie wirklich iſt. Das Studium der Sprache als Auslegung, vorzuͤglich aber als Verbeſſerung der Lesart durch Conjectur, uͤbt dieſes Er¬ kennen der Moͤglichkeiten auf eine dem Kna¬ benalter angemeſſene Art, wie es noch im maͤnn¬ lichen Alter auch einen knabenhaft bleibenden Sinn angenehm beſchaͤftigen kann.
Es iſt unmittelbare Bildung des Sinns, aus einer fuͤr uns erſtorbenen Rede den lebendi¬ gen Geiſt zu erkennen, und es findet darin kein anderes Verhaͤltniß ſtatt, als welches auch der Naturforſcher zu der Natur hat. Die Natur iſt fuͤr uns ein uralter Autor, der in Hierogly¬ phen geſchrieben hat, deſſen Blaͤtter coloſſal ſind, wie der Kuͤnſtler bey Goͤthe ſagt. Eben der¬
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gehende angewandte Logik. Alle wiſſenſchaft¬
liche Bildung beſteht in der Fertigkeit, die
Moͤglichkeiten zu erkennen, da im Gegentheil
das gemeine Wiſſen nur Wirklichkeiten begreift.
Der Phyſiker, wenn er erkannt hat, daß unter
gewiſſen Bedingungen eine Erſcheinung wahr¬
haft moͤglich ſey, hat auch erkannt, daß ſie
wirklich iſt. Das Studium der Sprache als
Auslegung, vorzuͤglich aber als Verbeſſerung
der Lesart durch Conjectur, uͤbt dieſes Er¬
kennen der Moͤglichkeiten auf eine dem Kna¬
benalter angemeſſene Art, wie es noch im maͤnn¬
lichen Alter auch einen knabenhaft bleibenden
Sinn angenehm beſchaͤftigen kann.
Es iſt unmittelbare Bildung des Sinns,
aus einer fuͤr uns erſtorbenen Rede den lebendi¬
gen Geiſt zu erkennen, und es findet darin
kein anderes Verhaͤltniß ſtatt, als welches auch
der Naturforſcher zu der Natur hat. Die Natur
iſt fuͤr uns ein uralter Autor, der in Hierogly¬
phen geſchrieben hat, deſſen Blaͤtter coloſſal ſind,
wie der Kuͤnſtler bey Goͤthe ſagt. Eben der¬
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 1803, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803/86>, abgerufen am 24.11.2024.
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