Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_109.001 Hier haben die Psychophysiker einzusetzen: es wäre zu psc_109.004 10) Mit der unter 9) behandelten Frage hat sich auch psc_109.010 psc_109.001 Hier haben die Psychophysiker einzusetzen: es wäre zu psc_109.004 10) Mit der unter 9) behandelten Frage hat sich auch psc_109.010 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0125" n="109"/><lb n="psc_109.001"/> Der Durchschnitt der Menschen scheut tragische Gegenstände <lb n="psc_109.002"/> und wünscht nicht zu weinen.</p> <lb n="psc_109.003"/> <p> Hier haben die Psychophysiker einzusetzen: es wäre zu <lb n="psc_109.004"/> untersuchen, ob das Vergnügen an tragischen Gegenständen <lb n="psc_109.005"/> auf solcher besondern Disposition beruht; Gegenstände ästhetischer <lb n="psc_109.006"/> Natur wären aufzusuchen, von denen man sich gern <lb n="psc_109.007"/> bis zu Thränen rühren läßt. Nach Herrn Dr. Ebbinghaus <lb n="psc_109.008"/> sind sie hier noch nicht weiter gekommen.</p> <lb n="psc_109.009"/> <p> 10) Mit der unter 9) behandelten Frage hat sich auch <lb n="psc_109.010"/> Aristoteles beschäftigt, und hier schlägt die berühmte Katharsis <lb n="psc_109.011"/> ein. Aristoteles spricht Kap. 14 von der aus Mitleid und <lb n="psc_109.012"/> Furcht entspringenden Lust, dem daraus entspringenden Vergnügen <lb n="psc_109.013"/> (<foreign xml:lang="grc">ἡδονή</foreign>): er weiß also zunächst, daß Mitleid und <lb n="psc_109.014"/> Furcht erregt werden durch tragische Gegenstände in Tragödie <lb n="psc_109.015"/> und Epopöe, nicht nur in der Tragödie, und er behauptet, <lb n="psc_109.016"/> dahinter liege ein Vergnügen; er spricht sich aber hier nicht <lb n="psc_109.017"/> näher darüber aus, wie das geschehe. Aber wenn er in der <lb n="psc_109.018"/> bekannten Definition der Tragödie im selben Kapitel behauptet: <lb n="psc_109.019"/> sie weckt Mitleid und Furcht und bewirkt die <lb n="psc_109.020"/> Katharsis dieser Affecte, so ist es wohl offenbar, daß eben <lb n="psc_109.021"/> diese Katharsis zugleich das Vergnügen ist, daß eben in ihr <lb n="psc_109.022"/> das Lustgefühl, die <foreign xml:lang="grc">ἡδονή</foreign>, besteht. Was ist nun aber diese <lb n="psc_109.023"/> Katharsis, welche Mitleid und Furcht in der Tragödie erfahren? <lb n="psc_109.024"/> J. Bernays hat unzweifelhaft nachgewiesen, daß <lb n="psc_109.025"/> Katharsis ein medicinischer Ausdruck sei; und zwar besteht <lb n="psc_109.026"/> die kathartische Heilung darin, daß Medicamente eingeführt <lb n="psc_109.027"/> werden, welche selbst zugleich mit dem Störenden, das durch <lb n="psc_109.028"/> sie beseitigt werden soll, aus dem Körper wieder heraustreten; </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [109/0125]
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Der Durchschnitt der Menschen scheut tragische Gegenstände psc_109.002
und wünscht nicht zu weinen.
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Hier haben die Psychophysiker einzusetzen: es wäre zu psc_109.004
untersuchen, ob das Vergnügen an tragischen Gegenständen psc_109.005
auf solcher besondern Disposition beruht; Gegenstände ästhetischer psc_109.006
Natur wären aufzusuchen, von denen man sich gern psc_109.007
bis zu Thränen rühren läßt. Nach Herrn Dr. Ebbinghaus psc_109.008
sind sie hier noch nicht weiter gekommen.
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10) Mit der unter 9) behandelten Frage hat sich auch psc_109.010
Aristoteles beschäftigt, und hier schlägt die berühmte Katharsis psc_109.011
ein. Aristoteles spricht Kap. 14 von der aus Mitleid und psc_109.012
Furcht entspringenden Lust, dem daraus entspringenden Vergnügen psc_109.013
(ἡδονή): er weiß also zunächst, daß Mitleid und psc_109.014
Furcht erregt werden durch tragische Gegenstände in Tragödie psc_109.015
und Epopöe, nicht nur in der Tragödie, und er behauptet, psc_109.016
dahinter liege ein Vergnügen; er spricht sich aber hier nicht psc_109.017
näher darüber aus, wie das geschehe. Aber wenn er in der psc_109.018
bekannten Definition der Tragödie im selben Kapitel behauptet: psc_109.019
sie weckt Mitleid und Furcht und bewirkt die psc_109.020
Katharsis dieser Affecte, so ist es wohl offenbar, daß eben psc_109.021
diese Katharsis zugleich das Vergnügen ist, daß eben in ihr psc_109.022
das Lustgefühl, die ἡδονή, besteht. Was ist nun aber diese psc_109.023
Katharsis, welche Mitleid und Furcht in der Tragödie erfahren? psc_109.024
J. Bernays hat unzweifelhaft nachgewiesen, daß psc_109.025
Katharsis ein medicinischer Ausdruck sei; und zwar besteht psc_109.026
die kathartische Heilung darin, daß Medicamente eingeführt psc_109.027
werden, welche selbst zugleich mit dem Störenden, das durch psc_109.028
sie beseitigt werden soll, aus dem Körper wieder heraustreten;
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