Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

psc_169.001
bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen psc_169.002
Farbe, die das ganze Stück mir hat."

psc_169.003

Das ganze Bekenntniß ist sehr merkwürdig, auch wo psc_169.004
etwa unwillkürlich die Absicht und Berechnung eintritt und psc_169.005
wieder verwischt werden muß. Der zweite Theil seiner Bekenntnisse psc_169.006
scheint mir weniger wichtig.

psc_169.007

Ob nun diese Bekenntnisse allgemein giltig sind, weiß psc_169.008
ich nicht zu sagen; Freytag z. B. scheint Ähnliches nicht psc_169.009
empfunden zu haben.

psc_169.010

Hätten wir doch mehr solche Selbstbekenntnisse von psc_169.011
Dichtern!

psc_169.012

Das, was etwa vorhanden, wäre sorgfältig zu sammeln.

psc_169.013

Einiges hierher Gehörige findet sich bei Alfieri. Er wird psc_169.014
durch Musik zum Dichten gestimmt (2, 5): "Mein Geist, psc_169.015
mein Herz und mein Verstand werden durch nichts so heftig psc_169.016
und unermeßlich angeregt als durch Töne überhaupt und psc_169.017
insbesondere durch die Stimme der Altisten und Sängerinnen." psc_169.018
"Nichts weckt in mir mehr die mannigfaltigen und psc_169.019
schrecklichen Leidenschaften (affetti), und fast alle meine psc_169.020
Trauerspiele sind unter dem Anhören von Musik oder psc_169.021
wenige Stunden nachher von mir concipirt" (ideate) 3, 3: psc_169.022
Melancholische Anfälle kommen periodisch, meist im Frühling, psc_169.023
vom April bis Ende Mai. Sein Geist hat gleichsam nach psc_169.024
dem Barometer mehr oder weniger Productionskraft, je nachdem psc_169.025
die Luft mehr oder minder schwer ist; bei den großen psc_169.026
Winden, zur Zeit der Sonnenwende und Nachtgleiche vorzüglich, psc_169.027
Unfähigkeit; des Abends unendlich weniger Scharfsinn psc_169.028
als des Morgens; im kältesten Winter und heißesten

psc_169.001
bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen psc_169.002
Farbe, die das ganze Stück mir hat.“

psc_169.003

  Das ganze Bekenntniß ist sehr merkwürdig, auch wo psc_169.004
etwa unwillkürlich die Absicht und Berechnung eintritt und psc_169.005
wieder verwischt werden muß. Der zweite Theil seiner Bekenntnisse psc_169.006
scheint mir weniger wichtig.

psc_169.007

  Ob nun diese Bekenntnisse allgemein giltig sind, weiß psc_169.008
ich nicht zu sagen; Freytag z. B. scheint Ähnliches nicht psc_169.009
empfunden zu haben.

psc_169.010

  Hätten wir doch mehr solche Selbstbekenntnisse von psc_169.011
Dichtern!

psc_169.012

  Das, was etwa vorhanden, wäre sorgfältig zu sammeln.

psc_169.013

  Einiges hierher Gehörige findet sich bei Alfieri. Er wird psc_169.014
durch Musik zum Dichten gestimmt (2, 5): „Mein Geist, psc_169.015
mein Herz und mein Verstand werden durch nichts so heftig psc_169.016
und unermeßlich angeregt als durch Töne überhaupt und psc_169.017
insbesondere durch die Stimme der Altisten und Sängerinnen.“ psc_169.018
„Nichts weckt in mir mehr die mannigfaltigen und psc_169.019
schrecklichen Leidenschaften (affetti), und fast alle meine psc_169.020
Trauerspiele sind unter dem Anhören von Musik oder psc_169.021
wenige Stunden nachher von mir concipirt“ (ideate) 3, 3: psc_169.022
Melancholische Anfälle kommen periodisch, meist im Frühling, psc_169.023
vom April bis Ende Mai. Sein Geist hat gleichsam nach psc_169.024
dem Barometer mehr oder weniger Productionskraft, je nachdem psc_169.025
die Luft mehr oder minder schwer ist; bei den großen psc_169.026
Winden, zur Zeit der Sonnenwende und Nachtgleiche vorzüglich, psc_169.027
Unfähigkeit; des Abends unendlich weniger Scharfsinn psc_169.028
als des Morgens; im kältesten Winter und heißesten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0185" n="169"/><lb n="psc_169.001"/>
bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen <lb n="psc_169.002"/>
Farbe, die das ganze Stück mir hat.&#x201C;</p>
            <lb n="psc_169.003"/>
            <p>  Das ganze Bekenntniß ist sehr merkwürdig, auch wo <lb n="psc_169.004"/>
etwa unwillkürlich die Absicht und Berechnung eintritt und <lb n="psc_169.005"/>
wieder verwischt werden muß. Der zweite Theil seiner Bekenntnisse <lb n="psc_169.006"/>
scheint mir weniger wichtig.</p>
            <lb n="psc_169.007"/>
            <p>  Ob nun diese Bekenntnisse allgemein giltig sind, weiß <lb n="psc_169.008"/>
ich nicht zu sagen; Freytag z. B. scheint Ähnliches nicht <lb n="psc_169.009"/>
empfunden zu haben.</p>
            <lb n="psc_169.010"/>
            <p>  Hätten wir doch mehr solche Selbstbekenntnisse von <lb n="psc_169.011"/>
Dichtern!</p>
            <lb n="psc_169.012"/>
            <p>  Das, was etwa vorhanden, wäre sorgfältig zu sammeln.</p>
            <lb n="psc_169.013"/>
            <p>  Einiges hierher Gehörige findet sich bei Alfieri. Er wird <lb n="psc_169.014"/>
durch Musik zum Dichten gestimmt (2, 5): &#x201E;Mein Geist, <lb n="psc_169.015"/>
mein Herz und mein Verstand werden durch nichts so heftig <lb n="psc_169.016"/>
und unermeßlich angeregt als durch Töne überhaupt und <lb n="psc_169.017"/>
insbesondere durch die Stimme der Altisten und Sängerinnen.&#x201C; <lb n="psc_169.018"/>
&#x201E;Nichts weckt in mir mehr die mannigfaltigen und <lb n="psc_169.019"/>
schrecklichen Leidenschaften (<hi rendition="#aq">affetti</hi>), und fast alle meine <lb n="psc_169.020"/>
Trauerspiele sind unter dem Anhören von Musik oder <lb n="psc_169.021"/>
wenige Stunden nachher von mir concipirt&#x201C; (<hi rendition="#aq">ideate</hi>) 3, 3: <lb n="psc_169.022"/>
Melancholische Anfälle kommen periodisch, meist im Frühling, <lb n="psc_169.023"/>
vom April bis Ende Mai. Sein Geist hat gleichsam nach <lb n="psc_169.024"/>
dem Barometer mehr oder weniger Productionskraft, je nachdem <lb n="psc_169.025"/>
die Luft mehr oder minder schwer ist; bei den großen <lb n="psc_169.026"/>
Winden, zur Zeit der Sonnenwende und Nachtgleiche vorzüglich, <lb n="psc_169.027"/>
Unfähigkeit; des Abends unendlich weniger Scharfsinn <lb n="psc_169.028"/>
als des Morgens; im kältesten Winter und heißesten
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[169/0185] psc_169.001 bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen psc_169.002 Farbe, die das ganze Stück mir hat.“ psc_169.003   Das ganze Bekenntniß ist sehr merkwürdig, auch wo psc_169.004 etwa unwillkürlich die Absicht und Berechnung eintritt und psc_169.005 wieder verwischt werden muß. Der zweite Theil seiner Bekenntnisse psc_169.006 scheint mir weniger wichtig. psc_169.007   Ob nun diese Bekenntnisse allgemein giltig sind, weiß psc_169.008 ich nicht zu sagen; Freytag z. B. scheint Ähnliches nicht psc_169.009 empfunden zu haben. psc_169.010   Hätten wir doch mehr solche Selbstbekenntnisse von psc_169.011 Dichtern! psc_169.012   Das, was etwa vorhanden, wäre sorgfältig zu sammeln. psc_169.013   Einiges hierher Gehörige findet sich bei Alfieri. Er wird psc_169.014 durch Musik zum Dichten gestimmt (2, 5): „Mein Geist, psc_169.015 mein Herz und mein Verstand werden durch nichts so heftig psc_169.016 und unermeßlich angeregt als durch Töne überhaupt und psc_169.017 insbesondere durch die Stimme der Altisten und Sängerinnen.“ psc_169.018 „Nichts weckt in mir mehr die mannigfaltigen und psc_169.019 schrecklichen Leidenschaften (affetti), und fast alle meine psc_169.020 Trauerspiele sind unter dem Anhören von Musik oder psc_169.021 wenige Stunden nachher von mir concipirt“ (ideate) 3, 3: psc_169.022 Melancholische Anfälle kommen periodisch, meist im Frühling, psc_169.023 vom April bis Ende Mai. Sein Geist hat gleichsam nach psc_169.024 dem Barometer mehr oder weniger Productionskraft, je nachdem psc_169.025 die Luft mehr oder minder schwer ist; bei den großen psc_169.026 Winden, zur Zeit der Sonnenwende und Nachtgleiche vorzüglich, psc_169.027 Unfähigkeit; des Abends unendlich weniger Scharfsinn psc_169.028 als des Morgens; im kältesten Winter und heißesten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/185
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/185>, abgerufen am 21.11.2024.