Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

psc_184.001
Eintheilungen der Dichter möglich -- die Abstufungen psc_184.002
sind einerseits so mannigfaltig wie die Charaktere der Jndividuen psc_184.003
überhaupt, andererseits giebt die ganze Poetik in psc_184.004
allen ihren Theilen Motive und Gesichtspuncte an die Hand psc_184.005
für Verschiedenheiten, weil da ganz verschiedene Methoden psc_184.006
möglich sind. Die Charakteristik eines Dichters zu entwerfen psc_184.007
ist daher außerordentlich schwer. Aus all solchen Eigenthümlichkeiten, psc_184.008
sofern sie in den Werken der Dichter sich psc_184.009
ausprägen, setzt sich der persönliche Stil zusammen.

psc_184.010

Eins aber gehört hierher, in den Zusammenhang dieses psc_184.011
Kapitels, ein Unterschied in der Productionsweise der Dichter: psc_184.012
ob ohne Rücksicht auf Publicum oder mit Rücksicht auf Publicum. psc_184.013
Schon früher haben wir immer, beim Ursprung der psc_184.014
Poesie, auf die innere Freude des Dichters und ihren Ausdruck psc_184.015
hingewiesen, und andererseits auf das herbeigerufene, psc_184.016
zur Theilnahme aufgeforderte Publicum.

psc_184.017

Es ist aber die Frage, ob die erstere Art für uns überhaupt psc_184.018
praktisch zur Perception kommt. Wenn ein Dichter psc_184.019
sich einsam ausklagt, dann sind die Freuden und Schmerzen, psc_184.020
in denen er schwelgt, sofern er sie bei sich behält, oder höchstens psc_184.021
ohne den Gedanken an ein Publicum seinem Tagebuch psc_184.022
anvertraut, überhaupt kaum Gegenstand der Untersuchung. psc_184.023
Sie liegen nicht vor, treten nicht ans Licht; auch solche psc_184.024
Tagebücher wohl nur in beschränktestem Maßstab. Wo sie psc_184.025
aber vorhanden sind, werden sie leicht eintönig, unerschöpflich psc_184.026
dasselbe wiederholend und zu demselben zurückkehrend, psc_184.027
weil eben die Rücksicht auf das Publicum fehlt.

psc_184.028

Denkt man sich eine herrliche, breite, Millionen von

psc_184.001
Eintheilungen der Dichter möglich — die Abstufungen psc_184.002
sind einerseits so mannigfaltig wie die Charaktere der Jndividuen psc_184.003
überhaupt, andererseits giebt die ganze Poetik in psc_184.004
allen ihren Theilen Motive und Gesichtspuncte an die Hand psc_184.005
für Verschiedenheiten, weil da ganz verschiedene Methoden psc_184.006
möglich sind. Die Charakteristik eines Dichters zu entwerfen psc_184.007
ist daher außerordentlich schwer. Aus all solchen Eigenthümlichkeiten, psc_184.008
sofern sie in den Werken der Dichter sich psc_184.009
ausprägen, setzt sich der persönliche Stil zusammen.

psc_184.010

  Eins aber gehört hierher, in den Zusammenhang dieses psc_184.011
Kapitels, ein Unterschied in der Productionsweise der Dichter: psc_184.012
ob ohne Rücksicht auf Publicum oder mit Rücksicht auf Publicum. psc_184.013
Schon früher haben wir immer, beim Ursprung der psc_184.014
Poesie, auf die innere Freude des Dichters und ihren Ausdruck psc_184.015
hingewiesen, und andererseits auf das herbeigerufene, psc_184.016
zur Theilnahme aufgeforderte Publicum.

psc_184.017

  Es ist aber die Frage, ob die erstere Art für uns überhaupt psc_184.018
praktisch zur Perception kommt. Wenn ein Dichter psc_184.019
sich einsam ausklagt, dann sind die Freuden und Schmerzen, psc_184.020
in denen er schwelgt, sofern er sie bei sich behält, oder höchstens psc_184.021
ohne den Gedanken an ein Publicum seinem Tagebuch psc_184.022
anvertraut, überhaupt kaum Gegenstand der Untersuchung. psc_184.023
Sie liegen nicht vor, treten nicht ans Licht; auch solche psc_184.024
Tagebücher wohl nur in beschränktestem Maßstab. Wo sie psc_184.025
aber vorhanden sind, werden sie leicht eintönig, unerschöpflich psc_184.026
dasselbe wiederholend und zu demselben zurückkehrend, psc_184.027
weil eben die Rücksicht auf das Publicum fehlt.

psc_184.028

  Denkt man sich eine herrliche, breite, Millionen von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0200" n="184"/><lb n="psc_184.001"/>
Eintheilungen der Dichter möglich &#x2014; die Abstufungen <lb n="psc_184.002"/>
sind einerseits so mannigfaltig wie die Charaktere der Jndividuen <lb n="psc_184.003"/>
überhaupt, andererseits giebt die ganze Poetik in <lb n="psc_184.004"/>
allen ihren Theilen Motive und Gesichtspuncte an die Hand <lb n="psc_184.005"/>
für Verschiedenheiten, weil da ganz verschiedene Methoden <lb n="psc_184.006"/>
möglich sind. Die Charakteristik eines Dichters zu entwerfen <lb n="psc_184.007"/>
ist daher außerordentlich schwer. Aus all solchen Eigenthümlichkeiten, <lb n="psc_184.008"/>
sofern sie in den Werken der Dichter sich <lb n="psc_184.009"/>
ausprägen, setzt sich der persönliche Stil zusammen.</p>
            <lb n="psc_184.010"/>
            <p>  Eins aber gehört hierher, in den Zusammenhang dieses <lb n="psc_184.011"/>
Kapitels, ein Unterschied in der Productionsweise der Dichter: <lb n="psc_184.012"/>
ob ohne Rücksicht auf Publicum oder mit Rücksicht auf Publicum. <lb n="psc_184.013"/>
Schon früher haben wir immer, beim Ursprung der <lb n="psc_184.014"/>
Poesie, auf die innere Freude des Dichters und ihren Ausdruck <lb n="psc_184.015"/>
hingewiesen, und andererseits auf das herbeigerufene, <lb n="psc_184.016"/>
zur Theilnahme aufgeforderte Publicum.</p>
            <lb n="psc_184.017"/>
            <p>  Es ist aber die Frage, ob die erstere Art für uns überhaupt <lb n="psc_184.018"/>
praktisch zur Perception kommt. Wenn ein Dichter <lb n="psc_184.019"/>
sich einsam ausklagt, dann sind die Freuden und Schmerzen, <lb n="psc_184.020"/>
in denen er schwelgt, sofern er sie bei sich behält, oder höchstens <lb n="psc_184.021"/>
ohne den Gedanken an ein Publicum seinem Tagebuch <lb n="psc_184.022"/>
anvertraut, überhaupt kaum Gegenstand der Untersuchung. <lb n="psc_184.023"/>
Sie liegen nicht vor, treten nicht ans Licht; auch solche <lb n="psc_184.024"/>
Tagebücher wohl nur in beschränktestem Maßstab. Wo sie <lb n="psc_184.025"/>
aber vorhanden sind, werden sie leicht eintönig, unerschöpflich <lb n="psc_184.026"/>
dasselbe wiederholend und zu demselben zurückkehrend, <lb n="psc_184.027"/>
weil eben die Rücksicht auf das Publicum fehlt.</p>
            <lb n="psc_184.028"/>
            <p>  Denkt man sich eine herrliche, breite, Millionen von
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0200] psc_184.001 Eintheilungen der Dichter möglich — die Abstufungen psc_184.002 sind einerseits so mannigfaltig wie die Charaktere der Jndividuen psc_184.003 überhaupt, andererseits giebt die ganze Poetik in psc_184.004 allen ihren Theilen Motive und Gesichtspuncte an die Hand psc_184.005 für Verschiedenheiten, weil da ganz verschiedene Methoden psc_184.006 möglich sind. Die Charakteristik eines Dichters zu entwerfen psc_184.007 ist daher außerordentlich schwer. Aus all solchen Eigenthümlichkeiten, psc_184.008 sofern sie in den Werken der Dichter sich psc_184.009 ausprägen, setzt sich der persönliche Stil zusammen. psc_184.010   Eins aber gehört hierher, in den Zusammenhang dieses psc_184.011 Kapitels, ein Unterschied in der Productionsweise der Dichter: psc_184.012 ob ohne Rücksicht auf Publicum oder mit Rücksicht auf Publicum. psc_184.013 Schon früher haben wir immer, beim Ursprung der psc_184.014 Poesie, auf die innere Freude des Dichters und ihren Ausdruck psc_184.015 hingewiesen, und andererseits auf das herbeigerufene, psc_184.016 zur Theilnahme aufgeforderte Publicum. psc_184.017   Es ist aber die Frage, ob die erstere Art für uns überhaupt psc_184.018 praktisch zur Perception kommt. Wenn ein Dichter psc_184.019 sich einsam ausklagt, dann sind die Freuden und Schmerzen, psc_184.020 in denen er schwelgt, sofern er sie bei sich behält, oder höchstens psc_184.021 ohne den Gedanken an ein Publicum seinem Tagebuch psc_184.022 anvertraut, überhaupt kaum Gegenstand der Untersuchung. psc_184.023 Sie liegen nicht vor, treten nicht ans Licht; auch solche psc_184.024 Tagebücher wohl nur in beschränktestem Maßstab. Wo sie psc_184.025 aber vorhanden sind, werden sie leicht eintönig, unerschöpflich psc_184.026 dasselbe wiederholend und zu demselben zurückkehrend, psc_184.027 weil eben die Rücksicht auf das Publicum fehlt. psc_184.028   Denkt man sich eine herrliche, breite, Millionen von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/200
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/200>, abgerufen am 24.11.2024.