Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite
psc_189.001

Es ist also sehr wichtig, daß Dinge richtig angekündigt psc_189.002
werden. Ein Buch drängt sich uns nicht auf; wir müssen psc_189.003
angelockt werden. Bei stofflichem Jnteresse gefällt nur das psc_189.004
Neue; wird daher ein Buch als neu angekündigt, so liegt psc_189.005
darin eine Verführung. So gehen die Ankündigungen im psc_189.006
16. Jahrhundert auf Actualität und dadurch auf Sensation: psc_189.007
"Neues Lied", "Neue Zeitung".

psc_189.008

Die Ankündigung ist in der Regel der Titel. Seine psc_189.009
Wahl ist wichtig: das Publicum muß auf den richtigen psc_189.010
Standpunct gestellt werden, damit keine Enttäuschung eintritt; psc_189.011
z. B. ob es ein Lustspiel oder ein Trauerspiel zu erwarten hat. psc_189.012
So fiel Grillparzers "Weh dem der lügt" durch, weil es psc_189.013
als "Lustspiel" angekündigt war.

psc_189.014
3. Die genießenden Seelenkräfte.
psc_189.015

Es ist hier ganz Analoges zu sagen wie über die schaffenden psc_189.016
Seelenkräfte der Dichter.

psc_189.017

Eine Erregung wird auch dem Publicum mitgetheilt. psc_189.018
Jn Bewegung gesetzt wird einerseits die Phantasie, andererseits psc_189.019
der Geschmack, d. h. das Urtheil, welches bestimmte psc_189.020
Maßstäbe anlegt und daher immer ein tüchtiges Verstandeselement psc_189.021
voraussetzt -- oft nicht unmittelbar wirkend, aber psc_189.022
hinterher.

psc_189.023

Mit beiden Elementen muß beim Publicum gerechnet psc_189.024
werden.

psc_189.025

Ferner gelten Otto Ludwigs Bekenntnisse auch für ein psc_189.026
fortgeschrittenes Publicum. So ist auch Mitleidenschaft der psc_189.027
übrigen Sinne möglich bei Reception, wie das Ludwig ja

psc_189.001

  Es ist also sehr wichtig, daß Dinge richtig angekündigt psc_189.002
werden. Ein Buch drängt sich uns nicht auf; wir müssen psc_189.003
angelockt werden. Bei stofflichem Jnteresse gefällt nur das psc_189.004
Neue; wird daher ein Buch als neu angekündigt, so liegt psc_189.005
darin eine Verführung. So gehen die Ankündigungen im psc_189.006
16. Jahrhundert auf Actualität und dadurch auf Sensation: psc_189.007
„Neues Lied“, „Neue Zeitung“.

psc_189.008

  Die Ankündigung ist in der Regel der Titel. Seine psc_189.009
Wahl ist wichtig: das Publicum muß auf den richtigen psc_189.010
Standpunct gestellt werden, damit keine Enttäuschung eintritt; psc_189.011
z. B. ob es ein Lustspiel oder ein Trauerspiel zu erwarten hat. psc_189.012
So fiel Grillparzers „Weh dem der lügt“ durch, weil es psc_189.013
als „Lustspiel“ angekündigt war.

psc_189.014
3. Die genießenden Seelenkräfte.
psc_189.015

  Es ist hier ganz Analoges zu sagen wie über die schaffenden psc_189.016
Seelenkräfte der Dichter.

psc_189.017

  Eine Erregung wird auch dem Publicum mitgetheilt. psc_189.018
Jn Bewegung gesetzt wird einerseits die Phantasie, andererseits psc_189.019
der Geschmack, d. h. das Urtheil, welches bestimmte psc_189.020
Maßstäbe anlegt und daher immer ein tüchtiges Verstandeselement psc_189.021
voraussetzt — oft nicht unmittelbar wirkend, aber psc_189.022
hinterher.

psc_189.023

  Mit beiden Elementen muß beim Publicum gerechnet psc_189.024
werden.

psc_189.025

  Ferner gelten Otto Ludwigs Bekenntnisse auch für ein psc_189.026
fortgeschrittenes Publicum. So ist auch Mitleidenschaft der psc_189.027
übrigen Sinne möglich bei Reception, wie das Ludwig ja

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0205" n="189"/>
            <lb n="psc_189.001"/>
            <p>  Es ist also sehr wichtig, daß Dinge richtig angekündigt <lb n="psc_189.002"/>
werden. Ein Buch drängt sich uns nicht auf; wir müssen <lb n="psc_189.003"/>
angelockt werden. Bei stofflichem Jnteresse gefällt nur das <lb n="psc_189.004"/>
Neue; wird daher ein Buch als neu angekündigt, so liegt <lb n="psc_189.005"/>
darin eine Verführung. So gehen die Ankündigungen im <lb n="psc_189.006"/>
16. Jahrhundert auf Actualität und dadurch auf Sensation: <lb n="psc_189.007"/>
&#x201E;Neues Lied&#x201C;, &#x201E;Neue Zeitung&#x201C;.</p>
            <lb n="psc_189.008"/>
            <p>  Die Ankündigung ist in der Regel der Titel. Seine <lb n="psc_189.009"/>
Wahl ist wichtig: das Publicum muß auf den richtigen <lb n="psc_189.010"/>
Standpunct gestellt werden, damit keine Enttäuschung eintritt; <lb n="psc_189.011"/>
z. B. ob es ein Lustspiel oder ein Trauerspiel zu erwarten hat. <lb n="psc_189.012"/>
So fiel Grillparzers &#x201E;Weh dem der lügt&#x201C; durch, weil es <lb n="psc_189.013"/>
als &#x201E;Lustspiel&#x201C; angekündigt war.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="psc_189.014"/>
            <head> <hi rendition="#c">3. <hi rendition="#g">Die genießenden Seelenkräfte.</hi></hi> </head>
            <lb n="psc_189.015"/>
            <p>  Es ist hier ganz Analoges zu sagen wie über die schaffenden <lb n="psc_189.016"/>
Seelenkräfte der Dichter.</p>
            <lb n="psc_189.017"/>
            <p>  Eine Erregung wird auch dem Publicum mitgetheilt. <lb n="psc_189.018"/>
Jn Bewegung gesetzt wird einerseits die Phantasie, andererseits <lb n="psc_189.019"/>
der Geschmack, d. h. das Urtheil, welches bestimmte <lb n="psc_189.020"/>
Maßstäbe anlegt und daher immer ein tüchtiges Verstandeselement <lb n="psc_189.021"/>
voraussetzt &#x2014; oft nicht unmittelbar wirkend, aber <lb n="psc_189.022"/>
hinterher.</p>
            <lb n="psc_189.023"/>
            <p>  Mit beiden Elementen muß beim Publicum gerechnet <lb n="psc_189.024"/>
werden.</p>
            <lb n="psc_189.025"/>
            <p>  Ferner gelten Otto Ludwigs Bekenntnisse auch für ein <lb n="psc_189.026"/>
fortgeschrittenes Publicum. So ist auch Mitleidenschaft der <lb n="psc_189.027"/>
übrigen Sinne möglich bei Reception, wie das Ludwig ja
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[189/0205] psc_189.001   Es ist also sehr wichtig, daß Dinge richtig angekündigt psc_189.002 werden. Ein Buch drängt sich uns nicht auf; wir müssen psc_189.003 angelockt werden. Bei stofflichem Jnteresse gefällt nur das psc_189.004 Neue; wird daher ein Buch als neu angekündigt, so liegt psc_189.005 darin eine Verführung. So gehen die Ankündigungen im psc_189.006 16. Jahrhundert auf Actualität und dadurch auf Sensation: psc_189.007 „Neues Lied“, „Neue Zeitung“. psc_189.008   Die Ankündigung ist in der Regel der Titel. Seine psc_189.009 Wahl ist wichtig: das Publicum muß auf den richtigen psc_189.010 Standpunct gestellt werden, damit keine Enttäuschung eintritt; psc_189.011 z. B. ob es ein Lustspiel oder ein Trauerspiel zu erwarten hat. psc_189.012 So fiel Grillparzers „Weh dem der lügt“ durch, weil es psc_189.013 als „Lustspiel“ angekündigt war. psc_189.014 3. Die genießenden Seelenkräfte. psc_189.015   Es ist hier ganz Analoges zu sagen wie über die schaffenden psc_189.016 Seelenkräfte der Dichter. psc_189.017   Eine Erregung wird auch dem Publicum mitgetheilt. psc_189.018 Jn Bewegung gesetzt wird einerseits die Phantasie, andererseits psc_189.019 der Geschmack, d. h. das Urtheil, welches bestimmte psc_189.020 Maßstäbe anlegt und daher immer ein tüchtiges Verstandeselement psc_189.021 voraussetzt — oft nicht unmittelbar wirkend, aber psc_189.022 hinterher. psc_189.023   Mit beiden Elementen muß beim Publicum gerechnet psc_189.024 werden. psc_189.025   Ferner gelten Otto Ludwigs Bekenntnisse auch für ein psc_189.026 fortgeschrittenes Publicum. So ist auch Mitleidenschaft der psc_189.027 übrigen Sinne möglich bei Reception, wie das Ludwig ja

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/205
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/205>, abgerufen am 24.11.2024.