Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_239.001 Nur wenige Menschen pflegen sich im Leben eines bilderreichen psc_239.006 Und für die Erzählung gilt dasselbe wie für das Drama. psc_239.001 Nur wenige Menschen pflegen sich im Leben eines bilderreichen psc_239.006 Und für die Erzählung gilt dasselbe wie für das Drama. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0255" n="239"/><lb n="psc_239.001"/> Stören der Jllusion, wie schon in alter Zeit Aristoteles bestätigt. <lb n="psc_239.002"/> Voraussetzung des Dramas ist, daß die Leute, die <lb n="psc_239.003"/> da spielen, unter sich sind, und daß nur ein guter Gott den <lb n="psc_239.004"/> Vorhang weggezogen hat, damit das Publicum zusehen kann.</p> <lb n="psc_239.005"/> <p> Nur wenige Menschen pflegen sich im Leben eines bilderreichen <lb n="psc_239.006"/> gehobenen Ausdrucks zu bedienen. Niemand pflegt <lb n="psc_239.007"/> in Versen zu reden. Die Poesie fingirt vielfach Beides. <lb n="psc_239.008"/> Andere Richtungen, welche die strenge Wahrheit und Wahrscheinlichkeit <lb n="psc_239.009"/> anstreben, haben auch schon hierin sich zur Pflicht <lb n="psc_239.010"/> gemacht, bei einer getreuen Naturnachahmung zu bleiben. <lb n="psc_239.011"/> Daher griff man im 18. Jahrhundert zu den prosaischen <lb n="psc_239.012"/> Tragödien. Man kam davon zurück, als die Poesie wieder <lb n="psc_239.013"/> statt stricter Naturwahrheit eine idealische Welt zu schaffen <lb n="psc_239.014"/> suchte: der typische Realismus, ja der Naturalismus sogar <lb n="psc_239.015"/> findet hier für die Naturwahrheit gewisse Grenzen gezogen; <lb n="psc_239.016"/> nur darf kein Mißverhältniß hervorgerufen werden bei Vergleichung <lb n="psc_239.017"/> von Darstellung und Wirklichkeit. Der Grundsatz: <lb n="psc_239.018"/> jede Person nur reden zu lassen, was sie vermöge ihres <lb n="psc_239.019"/> Standes und Bildungsgrades wirklich sagen kann, ist wohl <lb n="psc_239.020"/> selten streng durchgeführt worden; am meisten noch im <lb n="psc_239.021"/> Lustspiel. Wie oft aber hören wir die Sprache des <hi rendition="#g">Dichters,</hi> <lb n="psc_239.022"/> gleichmäßig schön gehoben, im Mund aller Personen! Ein <lb n="psc_239.023"/> Dichter müßte sonst darauf verzichten, dichterisch zu reden, <lb n="psc_239.024"/> wo er nicht zufällig einen Dichter einführt. Man thut nur <lb n="psc_239.025"/> gut, jene Vergleichung von Darstellung und Wirklichkeit <lb n="psc_239.026"/> nicht zu stark herauszufordern, weil sonst die Jllusion gestört <lb n="psc_239.027"/> wird.</p> <lb n="psc_239.028"/> <p> Und für die Erzählung gilt dasselbe wie für das Drama. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [239/0255]
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Stören der Jllusion, wie schon in alter Zeit Aristoteles bestätigt. psc_239.002
Voraussetzung des Dramas ist, daß die Leute, die psc_239.003
da spielen, unter sich sind, und daß nur ein guter Gott den psc_239.004
Vorhang weggezogen hat, damit das Publicum zusehen kann.
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Nur wenige Menschen pflegen sich im Leben eines bilderreichen psc_239.006
gehobenen Ausdrucks zu bedienen. Niemand pflegt psc_239.007
in Versen zu reden. Die Poesie fingirt vielfach Beides. psc_239.008
Andere Richtungen, welche die strenge Wahrheit und Wahrscheinlichkeit psc_239.009
anstreben, haben auch schon hierin sich zur Pflicht psc_239.010
gemacht, bei einer getreuen Naturnachahmung zu bleiben. psc_239.011
Daher griff man im 18. Jahrhundert zu den prosaischen psc_239.012
Tragödien. Man kam davon zurück, als die Poesie wieder psc_239.013
statt stricter Naturwahrheit eine idealische Welt zu schaffen psc_239.014
suchte: der typische Realismus, ja der Naturalismus sogar psc_239.015
findet hier für die Naturwahrheit gewisse Grenzen gezogen; psc_239.016
nur darf kein Mißverhältniß hervorgerufen werden bei Vergleichung psc_239.017
von Darstellung und Wirklichkeit. Der Grundsatz: psc_239.018
jede Person nur reden zu lassen, was sie vermöge ihres psc_239.019
Standes und Bildungsgrades wirklich sagen kann, ist wohl psc_239.020
selten streng durchgeführt worden; am meisten noch im psc_239.021
Lustspiel. Wie oft aber hören wir die Sprache des Dichters, psc_239.022
gleichmäßig schön gehoben, im Mund aller Personen! Ein psc_239.023
Dichter müßte sonst darauf verzichten, dichterisch zu reden, psc_239.024
wo er nicht zufällig einen Dichter einführt. Man thut nur psc_239.025
gut, jene Vergleichung von Darstellung und Wirklichkeit psc_239.026
nicht zu stark herauszufordern, weil sonst die Jllusion gestört psc_239.027
wird.
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Und für die Erzählung gilt dasselbe wie für das Drama.
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