Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_014.001 Betrachten wir nun aber die Entstehung des Epos überhaupt, psc_014.009 psc_014.001 Betrachten wir nun aber die Entstehung des Epos überhaupt, psc_014.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0030" n="14"/><lb n="psc_014.001"/> serbischen Liedern, wo der Vortrag nur entfernt zusammenhängt <lb n="psc_014.002"/> mit dem, was wir heute Gesang nennen: „singen und <lb n="psc_014.003"/> sagen“ nennt ihn die älteste deutsche Terminologie (Lachmann: <lb n="psc_014.004"/> Über Singen und Sagen, Kleine Schriften 1, 461). <lb n="psc_014.005"/> Wir wissen von höchst eintönigen, immer wiederholten Melodien, <lb n="psc_014.006"/> mit denen bei andern Völkern epische Lieder verbunden <lb n="psc_014.007"/> werden.</p> <lb n="psc_014.008"/> <p> Betrachten wir nun aber die Entstehung des Epos überhaupt, <lb n="psc_014.009"/> so sehen wir, wie die beiden Grundformen der Poesie, <lb n="psc_014.010"/> gebundene und ungebundene Rede, sich einander nähern. Die <lb n="psc_014.011"/> älteste Form der epischen Poesie ist entschieden das Märchen, <lb n="psc_014.012"/> die kurze Erzählung. Der Märchenerzähler der ältesten Zeit <lb n="psc_014.013"/> steht seinem Publicum gegenüber — während beim Tanzlied <lb n="psc_014.014"/> das ganze Publicum selbst singt. Wir sehen nun, wie in <lb n="psc_014.015"/> die ungebundene Rede des Vortragenden einzelne Stücke in <lb n="psc_014.016"/> gebundener Rede aufgenommen werden, wobei vielleicht der <lb n="psc_014.017"/> Vortrag sich eigentlichem Gesang schon eher nähert. So <lb n="psc_014.018"/> sehen wir sich eine <hi rendition="#g">gemischte Form</hi> entwickeln, die Prosa <lb n="psc_014.019"/> und Poesie verbindet. So bei den Germanen in der Saga <lb n="psc_014.020"/> der altnordischen Poesie; dieselbe Form setzte Müllenhoff <lb n="psc_014.021"/> für die altdeutsche Dichtung überhaupt mit Recht voraus <lb n="psc_014.022"/> (s. Zeitschrift für deutsches Alterthum 23, 51); so bei den <lb n="psc_014.023"/> Kelten in der mittelirischen Poesie (s. Windisch, Jrische Texte <lb n="psc_014.024"/> S. 63. 114. 203); endlich bei den Jndern im Veda (s. Oldenberg, <lb n="psc_014.025"/> Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 39, <lb n="psc_014.026"/> 52 f.). So gehören gebundene und ungebundene Rede, <lb n="psc_014.027"/> äußerlich vermischt, zusammen, um ein episches Kunstwerk hervorzubringen; <lb n="psc_014.028"/> diese Mischung ist Voraussetzung für das Epos.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [14/0030]
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serbischen Liedern, wo der Vortrag nur entfernt zusammenhängt psc_014.002
mit dem, was wir heute Gesang nennen: „singen und psc_014.003
sagen“ nennt ihn die älteste deutsche Terminologie (Lachmann: psc_014.004
Über Singen und Sagen, Kleine Schriften 1, 461). psc_014.005
Wir wissen von höchst eintönigen, immer wiederholten Melodien, psc_014.006
mit denen bei andern Völkern epische Lieder verbunden psc_014.007
werden.
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Betrachten wir nun aber die Entstehung des Epos überhaupt, psc_014.009
so sehen wir, wie die beiden Grundformen der Poesie, psc_014.010
gebundene und ungebundene Rede, sich einander nähern. Die psc_014.011
älteste Form der epischen Poesie ist entschieden das Märchen, psc_014.012
die kurze Erzählung. Der Märchenerzähler der ältesten Zeit psc_014.013
steht seinem Publicum gegenüber — während beim Tanzlied psc_014.014
das ganze Publicum selbst singt. Wir sehen nun, wie in psc_014.015
die ungebundene Rede des Vortragenden einzelne Stücke in psc_014.016
gebundener Rede aufgenommen werden, wobei vielleicht der psc_014.017
Vortrag sich eigentlichem Gesang schon eher nähert. So psc_014.018
sehen wir sich eine gemischte Form entwickeln, die Prosa psc_014.019
und Poesie verbindet. So bei den Germanen in der Saga psc_014.020
der altnordischen Poesie; dieselbe Form setzte Müllenhoff psc_014.021
für die altdeutsche Dichtung überhaupt mit Recht voraus psc_014.022
(s. Zeitschrift für deutsches Alterthum 23, 51); so bei den psc_014.023
Kelten in der mittelirischen Poesie (s. Windisch, Jrische Texte psc_014.024
S. 63. 114. 203); endlich bei den Jndern im Veda (s. Oldenberg, psc_014.025
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 39, psc_014.026
52 f.). So gehören gebundene und ungebundene Rede, psc_014.027
äußerlich vermischt, zusammen, um ein episches Kunstwerk hervorzubringen; psc_014.028
diese Mischung ist Voraussetzung für das Epos.
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