"Jn der Gesahr ist bloße Wahrscheinlichkeit, in der Wahrscheinlichkeit psc_293.002 noch Hoffnung, Hoffnung aber giebt Muth, und dieser ist psc_293.003 Gefühl der Kraft, ein Reiz, der uns dem ungewissen Übel entgegengehen psc_293.004 heißt. Jst hingegen die Gefahr in wirkliches Unheil übergegangen, psc_293.005 wie hier, so tritt ein ganz anderer Zustand ein, aus dem psc_293.006 man sich dann ziehen muß, so gut man kann."
psc_293.007
So lang also der Held in Gefahr schwebt, ist das Vergnügen psc_293.008 der Spannung u. s. w. noch vorhanden. Kommt er in der Gefahr psc_293.009 um, so ist im Gesammteindruck, wenn man zurückblickt, das Unangenehme psc_293.010 der Katastrophe vielleicht überwogen durch das Angenehme psc_293.011 der Spannung vor der Katastrophe.
psc_293.012
Ursprung des Mythus S. 116: vgl. Vortr. u. Auff. S. 385.
psc_293.013
Aristokratische und demokratische Verfassung auf litterarischem psc_293.014 Gebiet S. 129. Ausführlich handelt über diesen Gegensatz psc_293.015 ein merkwürdiges Blatt, dessen Inhalt ich zum grössten psc_293.016 Theile hersetze:
psc_293.017
Das Geschichtenerzählen bei Tieck u. A., die verwilderten objectiven psc_293.018 Gespräche -- die Episode im Epos. Das alte epische Lied kennt sie nicht, psc_293.019 erst eine Zeit die bewundernd zurückblickt auf das Ganze, die das psc_293.020 unmittelbare moralische Jnteresse an den Stoffen eingebüßt hat und psc_293.021 für ein mittelbares künstlerisches (ästhetisches) gestimmt ist -- eine psc_293.022 "Zeit, die dazu Zeit hat", ohne Aufregungen des praktischen Lebens, psc_293.023 unmittelbar drängende Aufgaben der Öffentlichkeit.
psc_293.024
Von demokratischer Poesie als neuer Energie wissen wir noch psc_293.025 nichts, sie bereitet sich erst vor. -- Elemente dazu vorhanden. -- Aber psc_293.026 Blüthenepoche hat sie noch nicht erlebt. Die große neuere Poesie ist psc_293.027 die des Absolutismus, der Tyrannis. Die letzte deutsche classische psc_293.028 Epoche ist ein Nachklang der italienischen des 16. Jahrhunderts -- die psc_293.029 directen Einwirkungen wären zu studiren. Nachwirkungen der Stoffe psc_293.030 und Formen, vgl. z. B. "Emilia Galotti", Goethes "Tasso", Meißner psc_293.031 "Bianca Capello", Tiecks "Vittoria Accorombona" -- Sonett u. dgl. psc_293.032 Die beiden Ströme, der altdeutsche und der romanische in Deutschland, psc_293.033 wären sehr wohl zu unterscheiden und zu verfolgen -- das 18. und psc_293.034 19. Jahrhundert in Deutschland erkennt sich selbst wieder in den gesellschaftlichen
psc_293.001
„Jn der Gesahr ist bloße Wahrscheinlichkeit, in der Wahrscheinlichkeit psc_293.002 noch Hoffnung, Hoffnung aber giebt Muth, und dieser ist psc_293.003 Gefühl der Kraft, ein Reiz, der uns dem ungewissen Übel entgegengehen psc_293.004 heißt. Jst hingegen die Gefahr in wirkliches Unheil übergegangen, psc_293.005 wie hier, so tritt ein ganz anderer Zustand ein, aus dem psc_293.006 man sich dann ziehen muß, so gut man kann.“
psc_293.007
So lang also der Held in Gefahr schwebt, ist das Vergnügen psc_293.008 der Spannung u. s. w. noch vorhanden. Kommt er in der Gefahr psc_293.009 um, so ist im Gesammteindruck, wenn man zurückblickt, das Unangenehme psc_293.010 der Katastrophe vielleicht überwogen durch das Angenehme psc_293.011 der Spannung vor der Katastrophe.
psc_293.012
Ursprung des Mythus S. 116: vgl. Vortr. u. Auff. S. 385.
psc_293.013
Aristokratische und demokratische Verfassung auf litterarischem psc_293.014 Gebiet S. 129. Ausführlich handelt über diesen Gegensatz psc_293.015 ein merkwürdiges Blatt, dessen Inhalt ich zum grössten psc_293.016 Theile hersetze:
psc_293.017
Das Geschichtenerzählen bei Tieck u. A., die verwilderten objectiven psc_293.018 Gespräche — die Episode im Epos. Das alte epische Lied kennt sie nicht, psc_293.019 erst eine Zeit die bewundernd zurückblickt auf das Ganze, die das psc_293.020 unmittelbare moralische Jnteresse an den Stoffen eingebüßt hat und psc_293.021 für ein mittelbares künstlerisches (ästhetisches) gestimmt ist — eine psc_293.022 „Zeit, die dazu Zeit hat“, ohne Aufregungen des praktischen Lebens, psc_293.023 unmittelbar drängende Aufgaben der Öffentlichkeit.
psc_293.024
Von demokratischer Poesie als neuer Energie wissen wir noch psc_293.025 nichts, sie bereitet sich erst vor. — Elemente dazu vorhanden. — Aber psc_293.026 Blüthenepoche hat sie noch nicht erlebt. Die große neuere Poesie ist psc_293.027 die des Absolutismus, der Tyrannis. Die letzte deutsche classische psc_293.028 Epoche ist ein Nachklang der italienischen des 16. Jahrhunderts — die psc_293.029 directen Einwirkungen wären zu studiren. Nachwirkungen der Stoffe psc_293.030 und Formen, vgl. z. B. „Emilia Galotti“, Goethes „Tasso“, Meißner psc_293.031 „Bianca Capello“, Tiecks „Vittoria Accorombona“ — Sonett u. dgl. psc_293.032 Die beiden Ströme, der altdeutsche und der romanische in Deutschland, psc_293.033 wären sehr wohl zu unterscheiden und zu verfolgen — das 18. und psc_293.034 19. Jahrhundert in Deutschland erkennt sich selbst wieder in den gesellschaftlichen
<TEI><text><back><divn="1"><pbfacs="#f0309"n="293"/><lbn="psc_293.001"/><p>„Jn der Gesahr ist bloße Wahrscheinlichkeit, in der Wahrscheinlichkeit <lbn="psc_293.002"/>
noch Hoffnung, Hoffnung aber giebt Muth, und dieser ist <lbn="psc_293.003"/>
Gefühl der Kraft, ein Reiz, der uns dem ungewissen Übel entgegengehen <lbn="psc_293.004"/>
heißt. Jst hingegen die Gefahr in wirkliches Unheil übergegangen, <lbn="psc_293.005"/>
wie hier, so tritt ein ganz anderer Zustand ein, aus dem <lbn="psc_293.006"/>
man sich dann ziehen muß, so gut man kann.“</p><lbn="psc_293.007"/><p> So lang also der Held in Gefahr schwebt, ist das Vergnügen <lbn="psc_293.008"/>
der Spannung u. s. w. noch vorhanden. Kommt er in der Gefahr <lbn="psc_293.009"/>
um, so ist im Gesammteindruck, wenn man zurückblickt, das Unangenehme <lbn="psc_293.010"/>
der Katastrophe vielleicht überwogen durch das Angenehme <lbn="psc_293.011"/>
der Spannung vor der Katastrophe.</p><lbn="psc_293.012"/><p><hirendition="#g">Ursprung des Mythus</hi> S. 116: vgl. Vortr. u. Auff. S. 385.</p><lbn="psc_293.013"/><p><hirendition="#g">Aristokratische und demokratische Verfassung auf litterarischem <lbn="psc_293.014"/>
Gebiet</hi> S. 129. <hirendition="#aq">Ausführlich handelt über diesen Gegensatz <lbn="psc_293.015"/>
ein merkwürdiges Blatt, dessen Inhalt ich zum grössten <lbn="psc_293.016"/>
Theile hersetze</hi>:</p><lbn="psc_293.017"/><p> Das Geschichtenerzählen bei Tieck u. A., die verwilderten objectiven <lbn="psc_293.018"/>
Gespräche — die Episode im Epos. Das alte epische Lied kennt sie nicht, <lbn="psc_293.019"/>
erst eine Zeit die bewundernd zurückblickt auf das Ganze, die das <lbn="psc_293.020"/>
unmittelbare moralische Jnteresse an den Stoffen eingebüßt hat und <lbn="psc_293.021"/>
für ein mittelbares künstlerisches (ästhetisches) gestimmt ist — eine <lbn="psc_293.022"/>„Zeit, die dazu Zeit hat“, ohne Aufregungen des praktischen Lebens, <lbn="psc_293.023"/>
unmittelbar drängende Aufgaben der Öffentlichkeit.</p><lbn="psc_293.024"/><p> Von demokratischer Poesie als neuer Energie wissen wir noch <lbn="psc_293.025"/>
nichts, sie bereitet sich erst vor. — Elemente dazu vorhanden. — Aber <lbn="psc_293.026"/>
Blüthenepoche hat sie noch nicht erlebt. Die große neuere Poesie ist <lbn="psc_293.027"/>
die des Absolutismus, der Tyrannis. Die letzte deutsche classische <lbn="psc_293.028"/>
Epoche ist ein Nachklang der italienischen des 16. Jahrhunderts — die <lbn="psc_293.029"/>
directen Einwirkungen wären zu studiren. Nachwirkungen der Stoffe <lbn="psc_293.030"/>
und Formen, vgl. z. B. „Emilia Galotti“, Goethes „Tasso“, Meißner <lbn="psc_293.031"/>„Bianca Capello“, Tiecks „Vittoria Accorombona“— Sonett u. dgl. <lbn="psc_293.032"/>
Die beiden Ströme, der altdeutsche und der romanische in Deutschland, <lbn="psc_293.033"/>
wären sehr wohl zu unterscheiden und zu verfolgen — das 18. und <lbn="psc_293.034"/>
19. Jahrhundert in Deutschland erkennt sich selbst wieder in den gesellschaftlichen
</p></div></back></text></TEI>
[293/0309]
psc_293.001
„Jn der Gesahr ist bloße Wahrscheinlichkeit, in der Wahrscheinlichkeit psc_293.002
noch Hoffnung, Hoffnung aber giebt Muth, und dieser ist psc_293.003
Gefühl der Kraft, ein Reiz, der uns dem ungewissen Übel entgegengehen psc_293.004
heißt. Jst hingegen die Gefahr in wirkliches Unheil übergegangen, psc_293.005
wie hier, so tritt ein ganz anderer Zustand ein, aus dem psc_293.006
man sich dann ziehen muß, so gut man kann.“
psc_293.007
So lang also der Held in Gefahr schwebt, ist das Vergnügen psc_293.008
der Spannung u. s. w. noch vorhanden. Kommt er in der Gefahr psc_293.009
um, so ist im Gesammteindruck, wenn man zurückblickt, das Unangenehme psc_293.010
der Katastrophe vielleicht überwogen durch das Angenehme psc_293.011
der Spannung vor der Katastrophe.
psc_293.012
Ursprung des Mythus S. 116: vgl. Vortr. u. Auff. S. 385.
psc_293.013
Aristokratische und demokratische Verfassung auf litterarischem psc_293.014
Gebiet S. 129. Ausführlich handelt über diesen Gegensatz psc_293.015
ein merkwürdiges Blatt, dessen Inhalt ich zum grössten psc_293.016
Theile hersetze:
psc_293.017
Das Geschichtenerzählen bei Tieck u. A., die verwilderten objectiven psc_293.018
Gespräche — die Episode im Epos. Das alte epische Lied kennt sie nicht, psc_293.019
erst eine Zeit die bewundernd zurückblickt auf das Ganze, die das psc_293.020
unmittelbare moralische Jnteresse an den Stoffen eingebüßt hat und psc_293.021
für ein mittelbares künstlerisches (ästhetisches) gestimmt ist — eine psc_293.022
„Zeit, die dazu Zeit hat“, ohne Aufregungen des praktischen Lebens, psc_293.023
unmittelbar drängende Aufgaben der Öffentlichkeit.
psc_293.024
Von demokratischer Poesie als neuer Energie wissen wir noch psc_293.025
nichts, sie bereitet sich erst vor. — Elemente dazu vorhanden. — Aber psc_293.026
Blüthenepoche hat sie noch nicht erlebt. Die große neuere Poesie ist psc_293.027
die des Absolutismus, der Tyrannis. Die letzte deutsche classische psc_293.028
Epoche ist ein Nachklang der italienischen des 16. Jahrhunderts — die psc_293.029
directen Einwirkungen wären zu studiren. Nachwirkungen der Stoffe psc_293.030
und Formen, vgl. z. B. „Emilia Galotti“, Goethes „Tasso“, Meißner psc_293.031
„Bianca Capello“, Tiecks „Vittoria Accorombona“ — Sonett u. dgl. psc_293.032
Die beiden Ströme, der altdeutsche und der romanische in Deutschland, psc_293.033
wären sehr wohl zu unterscheiden und zu verfolgen — das 18. und psc_293.034
19. Jahrhundert in Deutschland erkennt sich selbst wieder in den gesellschaftlichen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/309>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.