Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_063.001 Die Aufgabe der früheren Poetik, die wahre Poesie psc_063.007 psc_063.001 Die Aufgabe der früheren Poetik, die wahre Poesie psc_063.007 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0079" n="63"/><lb n="psc_063.001"/> sollte man meinen, daß ein solcher Mann die Forderung erfüllt <lb n="psc_063.002"/> haben werde; man findet sich aber enttäuscht. Zwar <lb n="psc_063.003"/> viel werthvolles Material, aber der gedankliche Theil recht <lb n="psc_063.004"/> schwach, und mit dem Material allein ist nicht viel anzufangen. <lb n="psc_063.005"/> Die Sache ist wesentlich noch zu machen.</p> <lb n="psc_063.006"/> <p> Die Aufgabe der früheren Poetik, die wahre Poesie <lb n="psc_063.007"/> zu suchen, hat sich als unlösbar erwiesen. Sie hat die wechselnden <lb n="psc_063.008"/> Geschmacksrichtungen niemals zu beherrschen vermocht, <lb n="psc_063.009"/> sie hat vielmehr oft unwillkürlich nur die Geschmacksrichtungen <lb n="psc_063.010"/> abgespiegelt, nur Versuche gemacht, das in der Praxis Herrschende <lb n="psc_063.011"/> zu rechtfertigen. Oder aber sie war ohnmächtig, war <lb n="psc_063.012"/> doch jedenfalls nicht im Stande so einleuchtende Beweise beizubringen, <lb n="psc_063.013"/> daß man sich ihr gefügt hätte. So ist z. B. die <lb n="psc_063.014"/> Kritik gegenüber dem jetzigen Naturalismus ohnmächtig... <lb n="psc_063.015"/> Sie hat nach dem Guten in der Kunst gestrebt und wollte <lb n="psc_063.016"/> das Schlechte bekämpfen; aber sie hat keine festen Maßstäbe <lb n="psc_063.017"/> gefunden zur Scheidung zwischen Gut und Schlecht... Sie <lb n="psc_063.018"/> hat sich deshalb schon entschließen müssen, seit Schiller, nicht <lb n="psc_063.019"/> mehr alle Erscheinungen auf den Unterschied von Gut und <lb n="psc_063.020"/> Schlecht zurückgehen zu lassen und so weit wenigstens jenes <lb n="psc_063.021"/> Suchen nach der reinen wahren Poesie aufzugeben, daß sie <lb n="psc_063.022"/> die Gegensätze zwischen Naiv und Sentimental, Klassisch und <lb n="psc_063.023"/> Romantisch, also Stilunterschiede, als quasi=gleichberechtigt <lb n="psc_063.024"/> nebeneinander stellte. Auf diese Weise hat man einen Stilgegensatz <lb n="psc_063.025"/> der Classification zu Grunde gelegt; und sogar <lb n="psc_063.026"/> Vischer hat den Gegensatz „Klassisch“ und „Romantisch“ <lb n="psc_063.027"/> durch seine ganze Aesthetik durchgeführt, hierin der Erbe der <lb n="psc_063.028"/> romantischen Doctrin.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [63/0079]
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sollte man meinen, daß ein solcher Mann die Forderung erfüllt psc_063.002
haben werde; man findet sich aber enttäuscht. Zwar psc_063.003
viel werthvolles Material, aber der gedankliche Theil recht psc_063.004
schwach, und mit dem Material allein ist nicht viel anzufangen. psc_063.005
Die Sache ist wesentlich noch zu machen.
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Die Aufgabe der früheren Poetik, die wahre Poesie psc_063.007
zu suchen, hat sich als unlösbar erwiesen. Sie hat die wechselnden psc_063.008
Geschmacksrichtungen niemals zu beherrschen vermocht, psc_063.009
sie hat vielmehr oft unwillkürlich nur die Geschmacksrichtungen psc_063.010
abgespiegelt, nur Versuche gemacht, das in der Praxis Herrschende psc_063.011
zu rechtfertigen. Oder aber sie war ohnmächtig, war psc_063.012
doch jedenfalls nicht im Stande so einleuchtende Beweise beizubringen, psc_063.013
daß man sich ihr gefügt hätte. So ist z. B. die psc_063.014
Kritik gegenüber dem jetzigen Naturalismus ohnmächtig... psc_063.015
Sie hat nach dem Guten in der Kunst gestrebt und wollte psc_063.016
das Schlechte bekämpfen; aber sie hat keine festen Maßstäbe psc_063.017
gefunden zur Scheidung zwischen Gut und Schlecht... Sie psc_063.018
hat sich deshalb schon entschließen müssen, seit Schiller, nicht psc_063.019
mehr alle Erscheinungen auf den Unterschied von Gut und psc_063.020
Schlecht zurückgehen zu lassen und so weit wenigstens jenes psc_063.021
Suchen nach der reinen wahren Poesie aufzugeben, daß sie psc_063.022
die Gegensätze zwischen Naiv und Sentimental, Klassisch und psc_063.023
Romantisch, also Stilunterschiede, als quasi=gleichberechtigt psc_063.024
nebeneinander stellte. Auf diese Weise hat man einen Stilgegensatz psc_063.025
der Classification zu Grunde gelegt; und sogar psc_063.026
Vischer hat den Gegensatz „Klassisch“ und „Romantisch“ psc_063.027
durch seine ganze Aesthetik durchgeführt, hierin der Erbe der psc_063.028
romantischen Doctrin.
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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