Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_079.001 2. Das Singen des Menschen hat man oft als Nachahmung psc_079.012 psc_079.001 2. Das Singen des Menschen hat man oft als Nachahmung psc_079.012 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0095" n="79"/><lb n="psc_079.001"/> zwei Momente zusammen: zunächst haben alle starken Gemüthsbewegungen <lb n="psc_079.002"/> oder Erregungen (äußerster Schmerz, Wuth, <lb n="psc_079.003"/> Schrecken, Freude, Liebesleidenschaft) die Neigung, die Muskeln <lb n="psc_079.004"/> erzittern zu machen (Darwin, Ausdruck der Gemüthsbewegungen <lb n="psc_079.005"/> bei den Menschen und den Thieren, deutsch von Carus, <lb n="psc_079.006"/> Stuttgart 1872 S. 222); und dann ist die Bewegung an <lb n="psc_079.007"/> sich Vergnügen, man wird sich der Kraft der Glieder bewußt <lb n="psc_079.008"/> indem man sie übt: Freude an weiten Märschen, an <lb n="psc_079.009"/> schwierigem Klettern, am Raufen, in civilisirten Zeiten am <lb n="psc_079.010"/> Turnen.</p> <lb n="psc_079.011"/> <p> 2. Das <hi rendition="#g">Singen</hi> des Menschen hat man oft als Nachahmung <lb n="psc_079.012"/> des Vogelgesanges hingestellt, und selbst Gervinus <lb n="psc_079.013"/> in seiner Schrift über Händel und Shakespeare bekennt sich <lb n="psc_079.014"/> dazu. Aber diese Erklärung ist sehr zweifelhaft, sie macht <lb n="psc_079.015"/> große Schwierigkeit; wohl aber kann man behaupten, daß beide <lb n="psc_079.016"/> aus derselben Quelle stammen. Beide sind freie Äußerung <lb n="psc_079.017"/> des Lebensgefühles, vielleicht wieder verbunden mit der Annehmlichkeit <lb n="psc_079.018"/> der Stimmbänder-Übung. Vogelgesang und <lb n="psc_079.019"/> Menschengesang sind gewiß vergleichbar allen Stimmäußerungen <lb n="psc_079.020"/> der Thiere, die offenbar ein Vergnügen ausdrücken, <lb n="psc_079.021"/> dem lustigen Bellen, dem kräftigen Wiehern &c. Ja Darwin <lb n="psc_079.022"/> (Ausdruck der Gemüthsbewegungen S. 84 f.) sagt: „Die beiden <lb n="psc_079.023"/> Geschlechter vieler Thiere rufen während der Brunstzeit einander <lb n="psc_079.024"/> beständig, und in nicht wenigen Fällen sucht das Männchen durch <lb n="psc_079.025"/> die Stimme das Weibchen zu bezaubern oder zu reizen. Dies <lb n="psc_079.026"/> scheint der uranfängliche Gebrauch der Stimme überhaupt <lb n="psc_079.027"/> gewesen zu sein. Hiernach wird der Gebrauch der Stimmorgane <lb n="psc_079.028"/> mit der Vorausempfindung des größten Vergnügens, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [79/0095]
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zwei Momente zusammen: zunächst haben alle starken Gemüthsbewegungen psc_079.002
oder Erregungen (äußerster Schmerz, Wuth, psc_079.003
Schrecken, Freude, Liebesleidenschaft) die Neigung, die Muskeln psc_079.004
erzittern zu machen (Darwin, Ausdruck der Gemüthsbewegungen psc_079.005
bei den Menschen und den Thieren, deutsch von Carus, psc_079.006
Stuttgart 1872 S. 222); und dann ist die Bewegung an psc_079.007
sich Vergnügen, man wird sich der Kraft der Glieder bewußt psc_079.008
indem man sie übt: Freude an weiten Märschen, an psc_079.009
schwierigem Klettern, am Raufen, in civilisirten Zeiten am psc_079.010
Turnen.
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2. Das Singen des Menschen hat man oft als Nachahmung psc_079.012
des Vogelgesanges hingestellt, und selbst Gervinus psc_079.013
in seiner Schrift über Händel und Shakespeare bekennt sich psc_079.014
dazu. Aber diese Erklärung ist sehr zweifelhaft, sie macht psc_079.015
große Schwierigkeit; wohl aber kann man behaupten, daß beide psc_079.016
aus derselben Quelle stammen. Beide sind freie Äußerung psc_079.017
des Lebensgefühles, vielleicht wieder verbunden mit der Annehmlichkeit psc_079.018
der Stimmbänder-Übung. Vogelgesang und psc_079.019
Menschengesang sind gewiß vergleichbar allen Stimmäußerungen psc_079.020
der Thiere, die offenbar ein Vergnügen ausdrücken, psc_079.021
dem lustigen Bellen, dem kräftigen Wiehern &c. Ja Darwin psc_079.022
(Ausdruck der Gemüthsbewegungen S. 84 f.) sagt: „Die beiden psc_079.023
Geschlechter vieler Thiere rufen während der Brunstzeit einander psc_079.024
beständig, und in nicht wenigen Fällen sucht das Männchen durch psc_079.025
die Stimme das Weibchen zu bezaubern oder zu reizen. Dies psc_079.026
scheint der uranfängliche Gebrauch der Stimme überhaupt psc_079.027
gewesen zu sein. Hiernach wird der Gebrauch der Stimmorgane psc_079.028
mit der Vorausempfindung des größten Vergnügens,
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