Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite

entziehen, ich kann ihm nicht nachhelfen, ich weiß
aber und glaube fest, daß ich einen solchen Zweck
erfüllen muß und erfülle. Aber das Mittel, das
ihre Natur erwählt hat, um ihren Zweck mit mir
zu erfüllen, ist mir desto heiliger -- es ist alles,
was mein ist, meine Moralität nehmlich, meine
Glückseligkeit. Alles übrige werde ich niemals er¬
fahren. Ich bin einem Bothen gleich, der einen
versiegelten Brief an den Ort seiner Bestimmung
trägt. Was er enthält, kann ihm einerley seyn --
er hat nichts als sein Bothenlohn dabey zu ver¬
dienen."

O wie arm lassen Sie mich stehn!

"Aber wohin haben wir uns verirret?" rief
jezt der Prinz aus, indem er lächelnd auf den Tisch
sah' wo die Rollen lagen. "Und doch nicht so sehr
verirret!" sezte er hinzu -- "denn vielleicht wer¬
den Sie mich jezt in dieser neuen Lebensart wieder
finden. Auch ich konnte mich nicht so schnell von
dem eingebildeten Reichthum entwöhnen, die Stützen
meiner Moralität und meiner Glückseligkeit nicht so
schnell von dem lieblichen Traume ablösen, mit
welchem alles, was bis jezt in mir gelebt hatte, so
fest verschlungen war. Ich sehnte mich nach dem
Leichtsinne, der das Daseyn der mehresten Men¬
schen um mich her erträglich macht. Alles, was
mich mir selbst entführte, war mir willkommen.
Soll ich es Ihnen gestehn? Ich wünschte zu sinken,
um diese Quelle meines Leidens auch mit der Kraft
dazu zu zerstören."

Ich

entziehen, ich kann ihm nicht nachhelfen, ich weiß
aber und glaube feſt, daß ich einen ſolchen Zweck
erfüllen muß und erfülle. Aber das Mittel, das
ihre Natur erwählt hat, um ihren Zweck mit mir
zu erfüllen, iſt mir deſto heiliger — es iſt alles,
was mein iſt, meine Moralität nehmlich, meine
Glückſeligkeit. Alles übrige werde ich niemals er¬
fahren. Ich bin einem Bothen gleich, der einen
verſiegelten Brief an den Ort ſeiner Beſtimmung
trägt. Was er enthält, kann ihm einerley ſeyn —
er hat nichts als ſein Bothenlohn dabey zu ver¬
dienen.“

O wie arm laſſen Sie mich ſtehn!

„Aber wohin haben wir uns verirret?“ rief
jezt der Prinz aus, indem er lächelnd auf den Tiſch
ſah' wo die Rollen lagen. „Und doch nicht ſo ſehr
verirret!“ ſezte er hinzu — „denn vielleicht wer¬
den Sie mich jezt in dieſer neuen Lebensart wieder
finden. Auch ich konnte mich nicht ſo ſchnell von
dem eingebildeten Reichthum entwöhnen, die Stützen
meiner Moralität und meiner Glückſeligkeit nicht ſo
ſchnell von dem lieblichen Traume ablöſen, mit
welchem alles, was bis jezt in mir gelebt hatte, ſo
feſt verſchlungen war. Ich ſehnte mich nach dem
Leichtſinne, der das Daſeyn der mehreſten Men¬
ſchen um mich her erträglich macht. Alles, was
mich mir ſelbſt entführte, war mir willkommen.
Soll ich es Ihnen geſtehn? Ich wünſchte zu ſinken,
um dieſe Quelle meines Leidens auch mit der Kraft
dazu zu zerſtören.“

Ich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0146" n="138"/>
entziehen, ich kann ihm nicht nachhelfen, ich weiß<lb/>
aber und glaube fe&#x017F;t, daß ich einen &#x017F;olchen Zweck<lb/>
erfüllen muß und erfülle. Aber das Mittel, das<lb/>
ihre Natur erwählt hat, um ihren Zweck mit mir<lb/>
zu erfüllen, i&#x017F;t mir de&#x017F;to heiliger &#x2014; es i&#x017F;t alles,<lb/>
was mein i&#x017F;t, meine Moralität nehmlich, meine<lb/>
Glück&#x017F;eligkeit. Alles übrige werde ich niemals er¬<lb/>
fahren. Ich bin einem Bothen gleich, der einen<lb/>
ver&#x017F;iegelten Brief an den Ort &#x017F;einer Be&#x017F;timmung<lb/>
trägt. Was er enthält, kann ihm einerley &#x017F;eyn &#x2014;<lb/>
er hat nichts als &#x017F;ein Bothenlohn dabey zu ver¬<lb/>
dienen.&#x201C;</p><lb/>
            <p>O wie arm la&#x017F;&#x017F;en Sie mich &#x017F;tehn!</p><lb/>
            <p>&#x201E;Aber wohin haben wir uns verirret?&#x201C; rief<lb/>
jezt der Prinz aus, indem er lächelnd auf den Ti&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;ah' wo die Rollen lagen. &#x201E;Und doch nicht &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
verirret!&#x201C; &#x017F;ezte er hinzu &#x2014; &#x201E;denn vielleicht wer¬<lb/>
den Sie mich jezt in die&#x017F;er neuen Lebensart wieder<lb/>
finden. Auch ich konnte mich nicht &#x017F;o &#x017F;chnell von<lb/>
dem eingebildeten Reichthum entwöhnen, die Stützen<lb/>
meiner Moralität und meiner Glück&#x017F;eligkeit nicht &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chnell von dem lieblichen Traume ablö&#x017F;en, mit<lb/>
welchem alles, was bis jezt in mir gelebt hatte, &#x017F;o<lb/>
fe&#x017F;t ver&#x017F;chlungen war. Ich &#x017F;ehnte mich nach dem<lb/>
Leicht&#x017F;inne, der das Da&#x017F;eyn der mehre&#x017F;ten Men¬<lb/>
&#x017F;chen um mich her erträglich macht. Alles, was<lb/>
mich mir &#x017F;elb&#x017F;t entführte, war mir willkommen.<lb/>
Soll ich es Ihnen ge&#x017F;tehn? Ich wün&#x017F;chte zu <hi rendition="#g">&#x017F;inken</hi>,<lb/>
um die&#x017F;e Quelle meines Leidens auch mit der Kraft<lb/>
dazu zu zer&#x017F;tören.&#x201C;</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Ich<lb/></fw>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0146] entziehen, ich kann ihm nicht nachhelfen, ich weiß aber und glaube feſt, daß ich einen ſolchen Zweck erfüllen muß und erfülle. Aber das Mittel, das ihre Natur erwählt hat, um ihren Zweck mit mir zu erfüllen, iſt mir deſto heiliger — es iſt alles, was mein iſt, meine Moralität nehmlich, meine Glückſeligkeit. Alles übrige werde ich niemals er¬ fahren. Ich bin einem Bothen gleich, der einen verſiegelten Brief an den Ort ſeiner Beſtimmung trägt. Was er enthält, kann ihm einerley ſeyn — er hat nichts als ſein Bothenlohn dabey zu ver¬ dienen.“ O wie arm laſſen Sie mich ſtehn! „Aber wohin haben wir uns verirret?“ rief jezt der Prinz aus, indem er lächelnd auf den Tiſch ſah' wo die Rollen lagen. „Und doch nicht ſo ſehr verirret!“ ſezte er hinzu — „denn vielleicht wer¬ den Sie mich jezt in dieſer neuen Lebensart wieder finden. Auch ich konnte mich nicht ſo ſchnell von dem eingebildeten Reichthum entwöhnen, die Stützen meiner Moralität und meiner Glückſeligkeit nicht ſo ſchnell von dem lieblichen Traume ablöſen, mit welchem alles, was bis jezt in mir gelebt hatte, ſo feſt verſchlungen war. Ich ſehnte mich nach dem Leichtſinne, der das Daſeyn der mehreſten Men¬ ſchen um mich her erträglich macht. Alles, was mich mir ſelbſt entführte, war mir willkommen. Soll ich es Ihnen geſtehn? Ich wünſchte zu ſinken, um dieſe Quelle meines Leidens auch mit der Kraft dazu zu zerſtören.“ Ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/146
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/146>, abgerufen am 19.05.2024.