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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.

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"Dafür werd' ich mich wohl hüten -- denn
wer steht mir dafür, daß er nicht in diesem Augen¬
blicke mitten unter uns stehet?"

"Wo? Wer?" riefen wir alle zugleich, und
schauten uns halb lachend, halb bestürzt im Zim¬
mer um -- "Das ist ja nicht möglich."

"O! diesem Menschen -- oder wer er seyn mag
-- sind Dinge möglich, die noch weit weniger zu
begreifen sind."

"Aber wer ist er denn? Woher stammt er? Ar¬
menier oder Russe? Was ist das Wahre an dem,
wofür er sich ausgiebt?"

"Keines von allem, was er scheint. Es wird
wenige Stände und Nationen geben, davon er nicht
schon die Maske getragen. Wer er sey? Woher er
gekommen? Wohin er gehe? weiß niemand.
Daß er lang' in Aegypten gewesen, wie viele be¬
haupten, und dort aus einer Katakombe seine ver¬
borgene Weisheit geholt habe, will ich weder beja¬
hen noch verneinen. Bey uns kennt man ihn nur
unter dem Namen des Unergründlichen. Wie
alt, zum Beyspiel, schätzen Sie ihn?

"Nach dem äußern Anschein zu urtheilen, kann
er kaum vierzig zurück gelegt haben."

"Und wie alt denken Sie, daß ich sey?"

"Nicht weit von funfzig."

"Ganz recht -- und wenn ich Ihnen nun sage,
daß ich noch ein Bursche von siebenzehn Jahren war,
als mir mein Großvater von diesem Wundermann
erzählte, der ihn ungefähr in eben dem Alter,

worin

„Dafür werd' ich mich wohl hüten — denn
wer ſteht mir dafür, daß er nicht in dieſem Augen¬
blicke mitten unter uns ſtehet?“

„Wo? Wer?“ riefen wir alle zugleich, und
ſchauten uns halb lachend, halb beſtürzt im Zim¬
mer um — „Das iſt ja nicht möglich.“

„O! dieſem Menſchen — oder wer er ſeyn mag
— ſind Dinge möglich, die noch weit weniger zu
begreifen ſind.“

„Aber wer iſt er denn? Woher ſtammt er? Ar¬
menier oder Ruſſe? Was iſt das Wahre an dem,
wofür er ſich ausgiebt?“

„Keines von allem, was er ſcheint. Es wird
wenige Stände und Nationen geben, davon er nicht
ſchon die Maſke getragen. Wer er ſey? Woher er
gekommen? Wohin er gehe? weiß niemand.
Daß er lang' in Aegypten geweſen, wie viele be¬
haupten, und dort aus einer Katakombe ſeine ver¬
borgene Weisheit geholt habe, will ich weder beja¬
hen noch verneinen. Bey uns kennt man ihn nur
unter dem Namen des Unergründlichen. Wie
alt, zum Beyſpiel, ſchätzen Sie ihn?

„Nach dem äußern Anſchein zu urtheilen, kann
er kaum vierzig zurück gelegt haben.“

„Und wie alt denken Sie, daß ich ſey?“

„Nicht weit von funfzig.“

„Ganz recht — und wenn ich Ihnen nun ſage,
daß ich noch ein Burſche von ſiebenzehn Jahren war,
als mir mein Großvater von dieſem Wundermann
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[50/0058] „Dafür werd' ich mich wohl hüten — denn wer ſteht mir dafür, daß er nicht in dieſem Augen¬ blicke mitten unter uns ſtehet?“ „Wo? Wer?“ riefen wir alle zugleich, und ſchauten uns halb lachend, halb beſtürzt im Zim¬ mer um — „Das iſt ja nicht möglich.“ „O! dieſem Menſchen — oder wer er ſeyn mag — ſind Dinge möglich, die noch weit weniger zu begreifen ſind.“ „Aber wer iſt er denn? Woher ſtammt er? Ar¬ menier oder Ruſſe? Was iſt das Wahre an dem, wofür er ſich ausgiebt?“ „Keines von allem, was er ſcheint. Es wird wenige Stände und Nationen geben, davon er nicht ſchon die Maſke getragen. Wer er ſey? Woher er gekommen? Wohin er gehe? weiß niemand. Daß er lang' in Aegypten geweſen, wie viele be¬ haupten, und dort aus einer Katakombe ſeine ver¬ borgene Weisheit geholt habe, will ich weder beja¬ hen noch verneinen. Bey uns kennt man ihn nur unter dem Namen des Unergründlichen. Wie alt, zum Beyſpiel, ſchätzen Sie ihn? „Nach dem äußern Anſchein zu urtheilen, kann er kaum vierzig zurück gelegt haben.“ „Und wie alt denken Sie, daß ich ſey?“ „Nicht weit von funfzig.“ „Ganz recht — und wenn ich Ihnen nun ſage, daß ich noch ein Burſche von ſiebenzehn Jahren war, als mir mein Großvater von dieſem Wundermann erzählte, der ihn ungefähr in eben dem Alter, worin

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/58>, abgerufen am 21.11.2024.