Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

Bild:
<< vorherige Seite

jener Mann für Armuth verschmachte, und das Kind
hingeht, und dem armen Mann seines Vaters Geldbörse
zuträgt, so ist diese Handlung naiv; denn die gesunde
Natur handelte aus dem Kinde, und in einer Welt, wo
die gesunde Natur herrschte, würde es vollkommen recht
gehabt haben, so zu verfahren. Es sieht bloß auf das
Bedürfniß, und auf das nächste Mittel es zu befriedigen;
eine solche Ausdehnung des Eigenthumsrechtes, wobey
ein Theil der Menschen zu Grunde gehen kann, ist in
der bloßen Natur nicht gegründet. Die Handlung des
Kindes ist also eine Beschämung der wirklichen Welt, und
das gesteht auch unser Herz durch das Wohlgefallen, wel-
ches es über jene Handlung empfindet.

Wenn ein Mensch ohne Weltkenntniß, sonst aber von
gutem Verstande, einem andern, der ihn betrügt, sich
aber geschickt zu verstellen weiß, seine Geheimnisse beich-
tet, und ihm durch seine Aufrichtigkeit selbst die Mit-
tel leyht ihm zu schaden, so finden wir das naiv. Wir
lachen ihn aus, aber können uns doch nicht erwehren, ihn
deßwegen hochzuschätzen. Denn sein Vertrauen auf den
andern quillt aus der Redlichkeit seiner eigenen Gesin-
nungen; wenigstens ist er nur in so fern naiv, als dieses
der Fall ist.

Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Ei-
genschaft verdorbener Menschen seyn, sondern nur Kin-
dern und kindlich gesinnten Menschen zukommen. Diese
letztern handeln und denken oft mitten unter den gekün-
stelten Verhältnissen der großen Welt naiv; sie vergessen
aus eigener schöner Menschlichkeit, daß sie es mit einer
verderbten Welt zu thun haben, und betragen sich selbst

jener Mann fuͤr Armuth verſchmachte, und das Kind
hingeht, und dem armen Mann ſeines Vaters Geldboͤrſe
zutraͤgt, ſo iſt dieſe Handlung naiv; denn die geſunde
Natur handelte aus dem Kinde, und in einer Welt, wo
die geſunde Natur herrſchte, wuͤrde es vollkommen recht
gehabt haben, ſo zu verfahren. Es ſieht bloß auf das
Beduͤrfniß, und auf das naͤchſte Mittel es zu befriedigen;
eine ſolche Ausdehnung des Eigenthumsrechtes, wobey
ein Theil der Menſchen zu Grunde gehen kann, iſt in
der bloßen Natur nicht gegruͤndet. Die Handlung des
Kindes iſt alſo eine Beſchaͤmung der wirklichen Welt, und
das geſteht auch unſer Herz durch das Wohlgefallen, wel-
ches es uͤber jene Handlung empfindet.

Wenn ein Menſch ohne Weltkenntniß, ſonſt aber von
gutem Verſtande, einem andern, der ihn betruͤgt, ſich
aber geſchickt zu verſtellen weiß, ſeine Geheimniſſe beich-
tet, und ihm durch ſeine Aufrichtigkeit ſelbſt die Mit-
tel leyht ihm zu ſchaden, ſo finden wir das naiv. Wir
lachen ihn aus, aber koͤnnen uns doch nicht erwehren, ihn
deßwegen hochzuſchaͤtzen. Denn ſein Vertrauen auf den
andern quillt aus der Redlichkeit ſeiner eigenen Geſin-
nungen; wenigſtens iſt er nur in ſo fern naiv, als dieſes
der Fall iſt.

Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Ei-
genſchaft verdorbener Menſchen ſeyn, ſondern nur Kin-
dern und kindlich geſinnten Menſchen zukommen. Dieſe
letztern handeln und denken oft mitten unter den gekuͤn-
ſtelten Verhaͤltniſſen der großen Welt naiv; ſie vergeſſen
aus eigener ſchoͤner Menſchlichkeit, daß ſie es mit einer
verderbten Welt zu thun haben, und betragen ſich ſelbſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0024" n="56"/>
jener Mann fu&#x0364;r Armuth ver&#x017F;chmachte, und das Kind<lb/>
hingeht, und dem armen Mann &#x017F;eines Vaters Geldbo&#x0364;r&#x017F;e<lb/>
zutra&#x0364;gt, &#x017F;o i&#x017F;t die&#x017F;e Handlung naiv; denn die ge&#x017F;unde<lb/>
Natur handelte aus dem Kinde, und in einer Welt, wo<lb/>
die ge&#x017F;unde Natur herr&#x017F;chte, wu&#x0364;rde es vollkommen recht<lb/>
gehabt haben, &#x017F;o zu verfahren. Es &#x017F;ieht bloß auf das<lb/>
Bedu&#x0364;rfniß, und auf das na&#x0364;ch&#x017F;te Mittel es zu befriedigen;<lb/>
eine &#x017F;olche Ausdehnung des Eigenthumsrechtes, wobey<lb/>
ein Theil der Men&#x017F;chen zu Grunde gehen kann, i&#x017F;t in<lb/>
der bloßen Natur nicht gegru&#x0364;ndet. Die Handlung des<lb/>
Kindes i&#x017F;t al&#x017F;o eine Be&#x017F;cha&#x0364;mung der wirklichen Welt, und<lb/>
das ge&#x017F;teht auch un&#x017F;er Herz durch das Wohlgefallen, wel-<lb/>
ches es u&#x0364;ber jene Handlung empfindet.</p><lb/>
        <p>Wenn ein Men&#x017F;ch ohne Weltkenntniß, &#x017F;on&#x017F;t aber von<lb/>
gutem Ver&#x017F;tande, einem andern, der ihn betru&#x0364;gt, &#x017F;ich<lb/>
aber ge&#x017F;chickt zu ver&#x017F;tellen weiß, &#x017F;eine Geheimni&#x017F;&#x017F;e beich-<lb/>
tet, und ihm durch &#x017F;eine Aufrichtigkeit &#x017F;elb&#x017F;t die Mit-<lb/>
tel leyht ihm zu &#x017F;chaden, &#x017F;o finden wir das naiv. Wir<lb/>
lachen ihn aus, aber ko&#x0364;nnen uns doch nicht erwehren, ihn<lb/>
deßwegen hochzu&#x017F;cha&#x0364;tzen. Denn &#x017F;ein Vertrauen auf den<lb/>
andern quillt aus der Redlichkeit &#x017F;einer eigenen Ge&#x017F;in-<lb/>
nungen; wenig&#x017F;tens i&#x017F;t er nur in &#x017F;o fern naiv, als die&#x017F;es<lb/>
der Fall i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Ei-<lb/>
gen&#x017F;chaft verdorbener Men&#x017F;chen &#x017F;eyn, &#x017F;ondern nur Kin-<lb/>
dern und kindlich ge&#x017F;innten Men&#x017F;chen zukommen. Die&#x017F;e<lb/>
letztern handeln und denken oft mitten unter den geku&#x0364;n-<lb/>
&#x017F;telten Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en der großen Welt naiv; &#x017F;ie verge&#x017F;&#x017F;en<lb/>
aus eigener &#x017F;cho&#x0364;ner Men&#x017F;chlichkeit, daß &#x017F;ie es mit einer<lb/>
verderbten Welt zu thun haben, und betragen &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0024] jener Mann fuͤr Armuth verſchmachte, und das Kind hingeht, und dem armen Mann ſeines Vaters Geldboͤrſe zutraͤgt, ſo iſt dieſe Handlung naiv; denn die geſunde Natur handelte aus dem Kinde, und in einer Welt, wo die geſunde Natur herrſchte, wuͤrde es vollkommen recht gehabt haben, ſo zu verfahren. Es ſieht bloß auf das Beduͤrfniß, und auf das naͤchſte Mittel es zu befriedigen; eine ſolche Ausdehnung des Eigenthumsrechtes, wobey ein Theil der Menſchen zu Grunde gehen kann, iſt in der bloßen Natur nicht gegruͤndet. Die Handlung des Kindes iſt alſo eine Beſchaͤmung der wirklichen Welt, und das geſteht auch unſer Herz durch das Wohlgefallen, wel- ches es uͤber jene Handlung empfindet. Wenn ein Menſch ohne Weltkenntniß, ſonſt aber von gutem Verſtande, einem andern, der ihn betruͤgt, ſich aber geſchickt zu verſtellen weiß, ſeine Geheimniſſe beich- tet, und ihm durch ſeine Aufrichtigkeit ſelbſt die Mit- tel leyht ihm zu ſchaden, ſo finden wir das naiv. Wir lachen ihn aus, aber koͤnnen uns doch nicht erwehren, ihn deßwegen hochzuſchaͤtzen. Denn ſein Vertrauen auf den andern quillt aus der Redlichkeit ſeiner eigenen Geſin- nungen; wenigſtens iſt er nur in ſo fern naiv, als dieſes der Fall iſt. Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Ei- genſchaft verdorbener Menſchen ſeyn, ſondern nur Kin- dern und kindlich geſinnten Menſchen zukommen. Dieſe letztern handeln und denken oft mitten unter den gekuͤn- ſtelten Verhaͤltniſſen der großen Welt naiv; ſie vergeſſen aus eigener ſchoͤner Menſchlichkeit, daß ſie es mit einer verderbten Welt zu thun haben, und betragen ſich ſelbſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/24
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/24>, abgerufen am 21.11.2024.