Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.unsere eigene schlecht gebrauchte moralische Freyheit und Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur Frage dich also wohl, empfindsamer Freund der Na- unſere eigene ſchlecht gebrauchte moraliſche Freyheit und Wir ſehen alsdann in der unvernuͤnftigen Natur nur Frage dich alſo wohl, empfindſamer Freund der Na- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0032" n="64"/> unſere eigene ſchlecht gebrauchte moraliſche Freyheit und<lb/> uͤber die in unſerm Handeln vermißte ſittliche Harmonie<lb/> fuͤhrt leicht eine ſolche Stimmung herbey, in der wir<lb/> das Vernunftloſe wie eine Perſon anreden, und demſel-<lb/> ben, als wenn es wirklich mit einer Verſuchung zum<lb/> Gegentheil zu kaͤmpfen gehabt haͤtte, ſe<supplied>i</supplied>ne ewige<lb/> Gleichfoͤrmigkeit zum Verdienſt machen, ſeine ruhige<lb/> Haltung beneiden. Es ſteht uns in einem ſolchen Augen-<lb/> blicke wohl an, daß wir das Praͤrogativ unſerer Vernunft<lb/> fuͤr einen Fluch und fuͤr ein Uebel halten, und uͤber dem<lb/> lebhaften Gefuͤhl der Unvollkommenheit unſeres wirklichen<lb/> Leiſtens die Gerechtigkeit gegen unſre Anlage und Be-<lb/> ſtimmung aus den Augen ſetzen.</p><lb/> <p>Wir ſehen alsdann in der unvernuͤnftigen Natur nur<lb/> eine gluͤcklichere Schweſter, die in dem muͤtterlichen Hauſe<lb/> zuruͤckblieb, aus welchem wir im Uebermuth unſerer Frey-<lb/> heit heraus in die Fremde ſtuͤrmten. Mit ſchmerzlichem<lb/> Verlangen ſehnen wir uns dahin zuruͤck, ſobald wir an-<lb/> gefangen, die Drangſale der Kultur zu erfahren und hoͤ-<lb/> ren im fernen Auslande der Kunſt der Mutter ruͤhrende<lb/> Stimme. Solange wir bloße Naturkinder waren, wa-<lb/> ren wir gluͤcklich und vollkommen; wir ſind frey gewor-<lb/> den, und haben beydes verloren. Daraus entſpringt eine<lb/> doppelte und ſehr ungleiche Sehnſucht nach der Natur;<lb/> eine Sehnſucht nach ihrer <hi rendition="#g">Gluͤckſeligkeit,</hi> eine Sehn-<lb/> ſucht nach ihrer <hi rendition="#g">Vollkommenheit.</hi> Den Verluſt der<lb/> erſten beklagt nur der ſinnliche Menſch; um den Verluſt<lb/> der andern kann nur der moraliſche trauren.</p><lb/> <p>Frage dich alſo wohl, empfindſamer Freund der Na-<lb/> tur, ob deine Traͤgheit nach ihrer Ruhe, ob deine be-<lb/> leidigte Sittlichkeit nach ihrer Uebereinſtimmung ſchmach-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [64/0032]
unſere eigene ſchlecht gebrauchte moraliſche Freyheit und
uͤber die in unſerm Handeln vermißte ſittliche Harmonie
fuͤhrt leicht eine ſolche Stimmung herbey, in der wir
das Vernunftloſe wie eine Perſon anreden, und demſel-
ben, als wenn es wirklich mit einer Verſuchung zum
Gegentheil zu kaͤmpfen gehabt haͤtte, ſeine ewige
Gleichfoͤrmigkeit zum Verdienſt machen, ſeine ruhige
Haltung beneiden. Es ſteht uns in einem ſolchen Augen-
blicke wohl an, daß wir das Praͤrogativ unſerer Vernunft
fuͤr einen Fluch und fuͤr ein Uebel halten, und uͤber dem
lebhaften Gefuͤhl der Unvollkommenheit unſeres wirklichen
Leiſtens die Gerechtigkeit gegen unſre Anlage und Be-
ſtimmung aus den Augen ſetzen.
Wir ſehen alsdann in der unvernuͤnftigen Natur nur
eine gluͤcklichere Schweſter, die in dem muͤtterlichen Hauſe
zuruͤckblieb, aus welchem wir im Uebermuth unſerer Frey-
heit heraus in die Fremde ſtuͤrmten. Mit ſchmerzlichem
Verlangen ſehnen wir uns dahin zuruͤck, ſobald wir an-
gefangen, die Drangſale der Kultur zu erfahren und hoͤ-
ren im fernen Auslande der Kunſt der Mutter ruͤhrende
Stimme. Solange wir bloße Naturkinder waren, wa-
ren wir gluͤcklich und vollkommen; wir ſind frey gewor-
den, und haben beydes verloren. Daraus entſpringt eine
doppelte und ſehr ungleiche Sehnſucht nach der Natur;
eine Sehnſucht nach ihrer Gluͤckſeligkeit, eine Sehn-
ſucht nach ihrer Vollkommenheit. Den Verluſt der
erſten beklagt nur der ſinnliche Menſch; um den Verluſt
der andern kann nur der moraliſche trauren.
Frage dich alſo wohl, empfindſamer Freund der Na-
tur, ob deine Traͤgheit nach ihrer Ruhe, ob deine be-
leidigte Sittlichkeit nach ihrer Uebereinſtimmung ſchmach-
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