Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.zustellen versteht, wird sich leicht von der Wahrheit des- Dieser Weg, den die neueren Dichter gehen, ist übri- wenn gleich nicht mehr ganz reiner Art und unter den alten
lateinischen ja selbst griechischen Dichtern fehlt es nicht an sentimentalischen. Nicht nur in demselben Dichter, auch in demselben Werke trifft man häufig beyde Gattungen ver- einigt an; wie zum Beyspiel in Werthers Leiden, und dergleichen Produkte werden immer den größern Effekt machen. zuſtellen verſteht, wird ſich leicht von der Wahrheit deſ- Dieſer Weg, den die neueren Dichter gehen, iſt uͤbri- wenn gleich nicht mehr ganz reiner Art und unter den alten
lateiniſchen ja ſelbſt griechiſchen Dichtern fehlt es nicht an ſentimentaliſchen. Nicht nur in demſelben Dichter, auch in demſelben Werke trifft man haͤufig beyde Gattungen ver- einigt an; wie zum Beyſpiel in Werthers Leiden, und dergleichen Produkte werden immer den groͤßern Effekt machen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0011" n="4"/> zuſtellen verſteht, wird ſich leicht von der Wahrheit deſ-<lb/> ſelben uͤberzeugen koͤnnen. Jene ruͤhren uns durch Na-<lb/> tur, durch ſinnliche Wahrheit, durch lebendige Gegen-<lb/> wart; dieſe ruͤhren uns durch Ideen.</p><lb/> <p>Dieſer Weg, den die neueren Dichter gehen, iſt uͤbri-<lb/> gens derſelbe, den der Menſch uͤberhaupt ſowohl im Ein-<lb/> zelnen als im Ganzen einſchlagen muß. Die Natur macht<lb/> ihn mit ſich Eins, die Kunſt trennt und entzweyet ihn,<lb/> durch das Ideal kehrt er zur Einheit zuruͤck. Weil aber<lb/> das Ideal ein unendliches iſt, das er niemals erreicht,<lb/> ſo kann der kultivierte Menſch in <hi rendition="#g">ſeiner</hi> Art niemals<lb/> vollkommen werden, wie doch der natuͤrliche Menſch es<lb/> in der ſeinigen zu werden vermag. Er muͤßte alſo dem<lb/> letztern an Vollkommenheit unendlich nachſtehen, wenn<lb/> bloß auf das Verhaͤltniß, in welchem beide zu ihrer Art<lb/> und zu ihrem Maximum ſtehen, geachtet wird. Ver-<lb/> gleicht man hingegen die Arten ſelbſt mit einander, ſo<lb/> zeigt ſich, daß das Ziel, zu welchem der Menſch durch<lb/> Kultur <hi rendition="#g">ſtrebt,</hi> demjenigen, welches er durch Natur <hi rendition="#g">er-<lb/> reicht,</hi> unendlich vorzuziehen iſt. Der eine erhaͤlt alſo<lb/> ſeinen Werth durch abſolute Erreichung einer endlichen,<lb/> der andre erlangt ihn durch Annaͤherung zu einer un-<lb/><note xml:id="seg2pn_1_2" prev="#seg2pn_1_1" place="foot" n="*">wenn gleich nicht mehr ganz reiner Art und unter den alten<lb/> lateiniſchen ja ſelbſt griechiſchen Dichtern fehlt es nicht an<lb/> ſentimentaliſchen. Nicht nur in demſelben Dichter, auch<lb/> in demſelben Werke trifft man haͤufig beyde Gattungen ver-<lb/> einigt an; wie zum Beyſpiel in <hi rendition="#g">Werthers Leiden,</hi><lb/> und dergleichen Produkte werden immer den groͤßern Effekt<lb/> machen.</note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [4/0011]
zuſtellen verſteht, wird ſich leicht von der Wahrheit deſ-
ſelben uͤberzeugen koͤnnen. Jene ruͤhren uns durch Na-
tur, durch ſinnliche Wahrheit, durch lebendige Gegen-
wart; dieſe ruͤhren uns durch Ideen.
Dieſer Weg, den die neueren Dichter gehen, iſt uͤbri-
gens derſelbe, den der Menſch uͤberhaupt ſowohl im Ein-
zelnen als im Ganzen einſchlagen muß. Die Natur macht
ihn mit ſich Eins, die Kunſt trennt und entzweyet ihn,
durch das Ideal kehrt er zur Einheit zuruͤck. Weil aber
das Ideal ein unendliches iſt, das er niemals erreicht,
ſo kann der kultivierte Menſch in ſeiner Art niemals
vollkommen werden, wie doch der natuͤrliche Menſch es
in der ſeinigen zu werden vermag. Er muͤßte alſo dem
letztern an Vollkommenheit unendlich nachſtehen, wenn
bloß auf das Verhaͤltniß, in welchem beide zu ihrer Art
und zu ihrem Maximum ſtehen, geachtet wird. Ver-
gleicht man hingegen die Arten ſelbſt mit einander, ſo
zeigt ſich, daß das Ziel, zu welchem der Menſch durch
Kultur ſtrebt, demjenigen, welches er durch Natur er-
reicht, unendlich vorzuziehen iſt. Der eine erhaͤlt alſo
ſeinen Werth durch abſolute Erreichung einer endlichen,
der andre erlangt ihn durch Annaͤherung zu einer un-
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* wenn gleich nicht mehr ganz reiner Art und unter den alten
lateiniſchen ja ſelbſt griechiſchen Dichtern fehlt es nicht an
ſentimentaliſchen. Nicht nur in demſelben Dichter, auch
in demſelben Werke trifft man haͤufig beyde Gattungen ver-
einigt an; wie zum Beyſpiel in Werthers Leiden,
und dergleichen Produkte werden immer den groͤßern Effekt
machen.
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/11>, abgerufen am 16.07.2024. |