Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

Bild:
<< vorherige Seite

Wendet man nun den Begriff der Poesie, der kein an-
drer ist, als der Menschheit ihren möglichst
vollständigen Ausdruck zu geben,
auf jene bey-
den Zustände an, so ergiebt sich, daß dort in dem Zustan-
de natürlicher Einfalt, wo der Mensch noch, mit allen
seinen Kräften zugleich, als harmonische Einheit wirkt,
wo mithin das Ganze seiner Natur sich in der Wirklich-
keit vollständig ausdrükt, die möglichst vollständige Nach-
ahmung des Wirklichen
-- daß hingegen hier in
dem Zustande der Kultur, wo jenes harmonische Zusam-
menwirken seiner ganzen Natur bloß eine Idee ist, die
Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder was auf eins
hinausläuft, die Darstellung des Ideals den
Dichter machen muß.
Und dieß sind auch die zwey
einzig möglichen Arten, wie sich überhaupt der poetische
Genius äussern kann. Sie sind, wie man sieht, äusserst
von einander verschieden, aber es giebt einen höhern Be-
griff, der sie beyde unter sich faßt, und es darf gar
nicht befremden, wenn dieser Begriff mit der Idee der
Menschheit in eins zusammentrifft.

Es ist hier der Ort nicht, diesen Gedanken, den nur
eine eigene Ausführung in sein volles Licht setzen kann,
weiter zu verfolgen. Wer aber nur irgend, dem Geiste
nach, und nicht bloß nach zufälligen Formen eine Ver-
gleichung zwischen alten und modernen Dichtern * an-

* Es ist vielleicht nicht überflüssig zu erinnern, daß, wenn
hier die neuen Dichter den alten entgegengesetzt werden,
nicht sowohl der Unterschied der Zeit, als der Unterschied
der Manier zu verstehen ist. Wir haben auch in neuern
ja sogar in neuesten Zeiten naive Dichtungen in allen Klassen

Wendet man nun den Begriff der Poeſie, der kein an-
drer iſt, als der Menſchheit ihren moͤglichſt
vollſtaͤndigen Ausdruck zu geben,
auf jene bey-
den Zuſtaͤnde an, ſo ergiebt ſich, daß dort in dem Zuſtan-
de natuͤrlicher Einfalt, wo der Menſch noch, mit allen
ſeinen Kraͤften zugleich, als harmoniſche Einheit wirkt,
wo mithin das Ganze ſeiner Natur ſich in der Wirklich-
keit vollſtaͤndig ausdruͤkt, die moͤglichſt vollſtaͤndige Nach-
ahmung des Wirklichen
— daß hingegen hier in
dem Zuſtande der Kultur, wo jenes harmoniſche Zuſam-
menwirken ſeiner ganzen Natur bloß eine Idee iſt, die
Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder was auf eins
hinauslaͤuft, die Darſtellung des Ideals den
Dichter machen muß.
Und dieß ſind auch die zwey
einzig moͤglichen Arten, wie ſich uͤberhaupt der poetiſche
Genius aͤuſſern kann. Sie ſind, wie man ſieht, aͤuſſerſt
von einander verſchieden, aber es giebt einen hoͤhern Be-
griff, der ſie beyde unter ſich faßt, und es darf gar
nicht befremden, wenn dieſer Begriff mit der Idee der
Menſchheit in eins zuſammentrifft.

Es iſt hier der Ort nicht, dieſen Gedanken, den nur
eine eigene Ausfuͤhrung in ſein volles Licht ſetzen kann,
weiter zu verfolgen. Wer aber nur irgend, dem Geiſte
nach, und nicht bloß nach zufaͤlligen Formen eine Ver-
gleichung zwiſchen alten und modernen Dichtern * an-

* Es iſt vielleicht nicht uͤberfluͤſſig zu erinnern, daß, wenn
hier die neuen Dichter den alten entgegengeſetzt werden,
nicht ſowohl der Unterſchied der Zeit, als der Unterſchied
der Manier zu verſtehen iſt. Wir haben auch in neuern
ja ſogar in neueſten Zeiten naive Dichtungen in allen Klaſſen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0010" n="3"/>
Wendet man nun den Begriff der Poe&#x017F;ie, der kein an-<lb/>
drer i&#x017F;t, als <hi rendition="#g">der Men&#x017F;chheit ihren mo&#x0364;glich&#x017F;t<lb/>
voll&#x017F;ta&#x0364;ndigen Ausdruck zu geben,</hi> auf jene bey-<lb/>
den Zu&#x017F;ta&#x0364;nde an, &#x017F;o ergiebt &#x017F;ich, daß dort in dem Zu&#x017F;tan-<lb/>
de natu&#x0364;rlicher Einfalt, wo der Men&#x017F;ch noch, mit allen<lb/>
&#x017F;einen Kra&#x0364;ften zugleich, als harmoni&#x017F;che Einheit wirkt,<lb/>
wo mithin das Ganze &#x017F;einer Natur &#x017F;ich in der Wirklich-<lb/>
keit voll&#x017F;ta&#x0364;ndig ausdru&#x0364;kt, die mo&#x0364;glich&#x017F;t voll&#x017F;ta&#x0364;ndige <hi rendition="#g">Nach-<lb/>
ahmung des Wirklichen</hi> &#x2014; daß hingegen hier in<lb/>
dem Zu&#x017F;tande der Kultur, wo jenes harmoni&#x017F;che Zu&#x017F;am-<lb/>
menwirken &#x017F;einer ganzen Natur bloß eine Idee i&#x017F;t, die<lb/>
Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder was auf eins<lb/>
hinausla&#x0364;uft, die <hi rendition="#g">Dar&#x017F;tellung des Ideals den<lb/>
Dichter machen muß.</hi> Und dieß &#x017F;ind auch die zwey<lb/>
einzig mo&#x0364;glichen Arten, wie &#x017F;ich u&#x0364;berhaupt der poeti&#x017F;che<lb/>
Genius a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern kann. Sie &#x017F;ind, wie man &#x017F;ieht, a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;t<lb/>
von einander ver&#x017F;chieden, aber es giebt einen ho&#x0364;hern Be-<lb/>
griff, der &#x017F;ie beyde unter &#x017F;ich faßt, und es darf gar<lb/>
nicht befremden, wenn die&#x017F;er Begriff mit der Idee der<lb/>
Men&#x017F;chheit in eins zu&#x017F;ammentrifft.</p><lb/>
        <p>Es i&#x017F;t hier der Ort nicht, die&#x017F;en Gedanken, den nur<lb/>
eine eigene Ausfu&#x0364;hrung in &#x017F;ein volles Licht &#x017F;etzen kann,<lb/>
weiter zu verfolgen. Wer aber nur irgend, dem Gei&#x017F;te<lb/>
nach, und nicht bloß nach zufa&#x0364;lligen Formen eine Ver-<lb/>
gleichung zwi&#x017F;chen alten und modernen Dichtern <note xml:id="seg2pn_1_1" next="#seg2pn_1_2" place="foot" n="*">Es i&#x017F;t vielleicht nicht u&#x0364;berflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig zu erinnern, daß, wenn<lb/>
hier die neuen Dichter den alten entgegenge&#x017F;etzt werden,<lb/>
nicht &#x017F;owohl der Unter&#x017F;chied der Zeit, als der Unter&#x017F;chied<lb/>
der Manier zu ver&#x017F;tehen i&#x017F;t. Wir haben auch in neuern<lb/>
ja &#x017F;ogar in neue&#x017F;ten Zeiten naive Dichtungen in allen Kla&#x017F;&#x017F;en</note> an-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[3/0010] Wendet man nun den Begriff der Poeſie, der kein an- drer iſt, als der Menſchheit ihren moͤglichſt vollſtaͤndigen Ausdruck zu geben, auf jene bey- den Zuſtaͤnde an, ſo ergiebt ſich, daß dort in dem Zuſtan- de natuͤrlicher Einfalt, wo der Menſch noch, mit allen ſeinen Kraͤften zugleich, als harmoniſche Einheit wirkt, wo mithin das Ganze ſeiner Natur ſich in der Wirklich- keit vollſtaͤndig ausdruͤkt, die moͤglichſt vollſtaͤndige Nach- ahmung des Wirklichen — daß hingegen hier in dem Zuſtande der Kultur, wo jenes harmoniſche Zuſam- menwirken ſeiner ganzen Natur bloß eine Idee iſt, die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder was auf eins hinauslaͤuft, die Darſtellung des Ideals den Dichter machen muß. Und dieß ſind auch die zwey einzig moͤglichen Arten, wie ſich uͤberhaupt der poetiſche Genius aͤuſſern kann. Sie ſind, wie man ſieht, aͤuſſerſt von einander verſchieden, aber es giebt einen hoͤhern Be- griff, der ſie beyde unter ſich faßt, und es darf gar nicht befremden, wenn dieſer Begriff mit der Idee der Menſchheit in eins zuſammentrifft. Es iſt hier der Ort nicht, dieſen Gedanken, den nur eine eigene Ausfuͤhrung in ſein volles Licht ſetzen kann, weiter zu verfolgen. Wer aber nur irgend, dem Geiſte nach, und nicht bloß nach zufaͤlligen Formen eine Ver- gleichung zwiſchen alten und modernen Dichtern * an- * Es iſt vielleicht nicht uͤberfluͤſſig zu erinnern, daß, wenn hier die neuen Dichter den alten entgegengeſetzt werden, nicht ſowohl der Unterſchied der Zeit, als der Unterſchied der Manier zu verſtehen iſt. Wir haben auch in neuern ja ſogar in neueſten Zeiten naive Dichtungen in allen Klaſſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/10
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/10>, abgerufen am 03.12.2024.