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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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Auch jetzt ist die Natur noch die einzige Flamme, an
der sich der Dichtergeist nähret, aus ihr allein schöpft
er seine ganze Macht, zu ihr allein spricht er auch in dem
künstlichen, in der Kultur begriffenen Menschen. Jede
andere Art zu wirken, ist dem poetischen Geiste fremd;
daher, beiläufig zu sagen, alle sogenannten Werke des
Witzes ganz mit Unrecht poetisch heißen, ob wir sie gleich
lange Zeit, durch das Ansehen der französischen Littera-
tur verleitet, damit vermenget haben. Die Natur, sage
ich, ist es auch noch jetzt, in dem künstlichen Zustande der
Kultur, wodurch der Dichtergeist mächtig ist, nur steht
er jetzt in einem ganz andern Verhältniß zu derselben.

So lange der Mensch noch reine, es versteht sich, nicht
rohe Natur ist, wirkt er als ungetheilte sinnliche Einheit,
und als ein harmonierendes Ganze. Sinne und Vernunft,
empfangendes und selbstthätiges Vermögen, haben sich in
ihrem Geschäfte noch nicht getrennt, vielweniger stehen
sie im Widerspruch miteinander. Seine Empfindungen
sind nicht das formlose Spiel des Zufalls, seine Gedan-
ken nicht das gehaltlose Spiel der Vorstellungskraft; aus
dem Gesetz der Nothwendigkeit gehen jene, aus der
Wirklichkeit gehen diese hervor. Ist der Mensch in
den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunst ihre
Hand an ihn gelegt, so ist jene sinnliche Harmonie in
ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moralische
Einheit, d. h. als nach Einheit strebend, sich äußern.
Die Uebereinstimmung zwischen seinem Empfinden und
Denken, die in dem ersten Zustande wirklich statt fand,
existiert jetzt bloß idealisch; sie ist nicht mehr in ihm,
sondern außer ihm; als ein Gedanke, der erst realisiert
werden soll, nicht mehr als Thatsache seines Lebens.

Auch jetzt iſt die Natur noch die einzige Flamme, an
der ſich der Dichtergeiſt naͤhret, aus ihr allein ſchoͤpft
er ſeine ganze Macht, zu ihr allein ſpricht er auch in dem
kuͤnſtlichen, in der Kultur begriffenen Menſchen. Jede
andere Art zu wirken, iſt dem poetiſchen Geiſte fremd;
daher, beilaͤufig zu ſagen, alle ſogenannten Werke des
Witzes ganz mit Unrecht poetiſch heißen, ob wir ſie gleich
lange Zeit, durch das Anſehen der franzoͤſiſchen Littera-
tur verleitet, damit vermenget haben. Die Natur, ſage
ich, iſt es auch noch jetzt, in dem kuͤnſtlichen Zuſtande der
Kultur, wodurch der Dichtergeiſt maͤchtig iſt, nur ſteht
er jetzt in einem ganz andern Verhaͤltniß zu derſelben.

So lange der Menſch noch reine, es verſteht ſich, nicht
rohe Natur iſt, wirkt er als ungetheilte ſinnliche Einheit,
und als ein harmonierendes Ganze. Sinne und Vernunft,
empfangendes und ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen, haben ſich in
ihrem Geſchaͤfte noch nicht getrennt, vielweniger ſtehen
ſie im Widerſpruch miteinander. Seine Empfindungen
ſind nicht das formloſe Spiel des Zufalls, ſeine Gedan-
ken nicht das gehaltloſe Spiel der Vorſtellungskraft; aus
dem Geſetz der Nothwendigkeit gehen jene, aus der
Wirklichkeit gehen dieſe hervor. Iſt der Menſch in
den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunſt ihre
Hand an ihn gelegt, ſo iſt jene ſinnliche Harmonie in
ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moraliſche
Einheit, d. h. als nach Einheit ſtrebend, ſich aͤußern.
Die Uebereinſtimmung zwiſchen ſeinem Empfinden und
Denken, die in dem erſten Zuſtande wirklich ſtatt fand,
exiſtiert jetzt bloß idealiſch; ſie iſt nicht mehr in ihm,
ſondern außer ihm; als ein Gedanke, der erſt realiſiert
werden ſoll, nicht mehr als Thatſache ſeines Lebens.

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[2/0009] Auch jetzt iſt die Natur noch die einzige Flamme, an der ſich der Dichtergeiſt naͤhret, aus ihr allein ſchoͤpft er ſeine ganze Macht, zu ihr allein ſpricht er auch in dem kuͤnſtlichen, in der Kultur begriffenen Menſchen. Jede andere Art zu wirken, iſt dem poetiſchen Geiſte fremd; daher, beilaͤufig zu ſagen, alle ſogenannten Werke des Witzes ganz mit Unrecht poetiſch heißen, ob wir ſie gleich lange Zeit, durch das Anſehen der franzoͤſiſchen Littera- tur verleitet, damit vermenget haben. Die Natur, ſage ich, iſt es auch noch jetzt, in dem kuͤnſtlichen Zuſtande der Kultur, wodurch der Dichtergeiſt maͤchtig iſt, nur ſteht er jetzt in einem ganz andern Verhaͤltniß zu derſelben. So lange der Menſch noch reine, es verſteht ſich, nicht rohe Natur iſt, wirkt er als ungetheilte ſinnliche Einheit, und als ein harmonierendes Ganze. Sinne und Vernunft, empfangendes und ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen, haben ſich in ihrem Geſchaͤfte noch nicht getrennt, vielweniger ſtehen ſie im Widerſpruch miteinander. Seine Empfindungen ſind nicht das formloſe Spiel des Zufalls, ſeine Gedan- ken nicht das gehaltloſe Spiel der Vorſtellungskraft; aus dem Geſetz der Nothwendigkeit gehen jene, aus der Wirklichkeit gehen dieſe hervor. Iſt der Menſch in den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunſt ihre Hand an ihn gelegt, ſo iſt jene ſinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moraliſche Einheit, d. h. als nach Einheit ſtrebend, ſich aͤußern. Die Uebereinſtimmung zwiſchen ſeinem Empfinden und Denken, die in dem erſten Zuſtande wirklich ſtatt fand, exiſtiert jetzt bloß idealiſch; ſie iſt nicht mehr in ihm, ſondern außer ihm; als ein Gedanke, der erſt realiſiert werden ſoll, nicht mehr als Thatſache ſeines Lebens.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/9>, abgerufen am 29.03.2024.