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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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Stärke auf der andern anrechnen. Kleists gefühlvolle
Seele schwelgt am liebsten im Anblick ländlicher Scenen
und Sitten. Er flieht gerne das leere Geräusch der Ge-
sellschaft und findet im Schooß der leblosen Natur die
Harmonie und den Frieden, den er in der moralischen
Welt vermißt. Wie rührend ist seine Sehnsucht nach
Ruhe! * Wie wahr und gefühlt, wenn er singt:

"O Welt du bist des wahren Lebens Grab.
Oft reitzet mich ein heisser Trieb zur Tugend,
Für Wehmuth rollt ein Bach die Wang' herab,
Das Beyspiel siegt und du o Feur der Jugend.
Ihr trocknet bald die edeln Thränen ein.
Ein wahrer Mensch muß fern von Menschen seyn."
Aber hat ihn sein Dichtungstrieb aus dem einengenden
Kreis der Verhältnisse heraus in die geistreiche Einsam-
keit der Natur geführt, so verfolgt ihn auch noch biß hieher
das ängstliche Bild des Zeitalters und leider auch seine
Fesseln. Was er fliehet, ist in ihm, was er suchet, ist
ewig ausser ihm; nie kann er den üblen Einfluß seines
Jahrhunderts verwinden. Ist sein Herz gleich feurig,
seine Phantasie gleich energisch genug, die todten Gebilde
des Verstandes durch die Darstellung zu beseelen, so ent-
seelt der kalte Gedanke eben so oft wieder die lebendige
Schöpfung der Dichtungskraft, und die Reflexion stört
das geheime Werk der Empfindung. Bunt zwar und
prangend wie der Frühling, den er besang, ist seine Dich-
tung, seine Phantasie ist rege und thätig, doch möchte
man sie eher veränderlich als reich, eher spielend als

* Man sehe das Gedicht dieses Nahmens in seinen Werken.

Staͤrke auf der andern anrechnen. Kleiſts gefuͤhlvolle
Seele ſchwelgt am liebſten im Anblick laͤndlicher Scenen
und Sitten. Er flieht gerne das leere Geraͤuſch der Ge-
ſellſchaft und findet im Schooß der lebloſen Natur die
Harmonie und den Frieden, den er in der moraliſchen
Welt vermißt. Wie ruͤhrend iſt ſeine Sehnſucht nach
Ruhe! * Wie wahr und gefuͤhlt, wenn er ſingt:

„O Welt du biſt des wahren Lebens Grab.
Oft reitzet mich ein heiſſer Trieb zur Tugend,
Fuͤr Wehmuth rollt ein Bach die Wang’ herab,
Das Beyſpiel ſiegt und du o Feur der Jugend.
Ihr trocknet bald die edeln Thraͤnen ein.
Ein wahrer Menſch muß fern von Menſchen ſeyn.“
Aber hat ihn ſein Dichtungstrieb aus dem einengenden
Kreis der Verhaͤltniſſe heraus in die geiſtreiche Einſam-
keit der Natur gefuͤhrt, ſo verfolgt ihn auch noch biß hieher
das aͤngſtliche Bild des Zeitalters und leider auch ſeine
Feſſeln. Was er fliehet, iſt in ihm, was er ſuchet, iſt
ewig auſſer ihm; nie kann er den uͤblen Einfluß ſeines
Jahrhunderts verwinden. Iſt ſein Herz gleich feurig,
ſeine Phantaſie gleich energiſch genug, die todten Gebilde
des Verſtandes durch die Darſtellung zu beſeelen, ſo ent-
ſeelt der kalte Gedanke eben ſo oft wieder die lebendige
Schoͤpfung der Dichtungskraft, und die Reflexion ſtoͤrt
das geheime Werk der Empfindung. Bunt zwar und
prangend wie der Fruͤhling, den er beſang, iſt ſeine Dich-
tung, ſeine Phantaſie iſt rege und thaͤtig, doch moͤchte
man ſie eher veraͤnderlich als reich, eher ſpielend als

* Man ſehe das Gedicht dieſes Nahmens in ſeinen Werken.
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[29/0036] Staͤrke auf der andern anrechnen. Kleiſts gefuͤhlvolle Seele ſchwelgt am liebſten im Anblick laͤndlicher Scenen und Sitten. Er flieht gerne das leere Geraͤuſch der Ge- ſellſchaft und findet im Schooß der lebloſen Natur die Harmonie und den Frieden, den er in der moraliſchen Welt vermißt. Wie ruͤhrend iſt ſeine Sehnſucht nach Ruhe! * Wie wahr und gefuͤhlt, wenn er ſingt: „O Welt du biſt des wahren Lebens Grab. Oft reitzet mich ein heiſſer Trieb zur Tugend, Fuͤr Wehmuth rollt ein Bach die Wang’ herab, Das Beyſpiel ſiegt und du o Feur der Jugend. Ihr trocknet bald die edeln Thraͤnen ein. Ein wahrer Menſch muß fern von Menſchen ſeyn.“ Aber hat ihn ſein Dichtungstrieb aus dem einengenden Kreis der Verhaͤltniſſe heraus in die geiſtreiche Einſam- keit der Natur gefuͤhrt, ſo verfolgt ihn auch noch biß hieher das aͤngſtliche Bild des Zeitalters und leider auch ſeine Feſſeln. Was er fliehet, iſt in ihm, was er ſuchet, iſt ewig auſſer ihm; nie kann er den uͤblen Einfluß ſeines Jahrhunderts verwinden. Iſt ſein Herz gleich feurig, ſeine Phantaſie gleich energiſch genug, die todten Gebilde des Verſtandes durch die Darſtellung zu beſeelen, ſo ent- ſeelt der kalte Gedanke eben ſo oft wieder die lebendige Schoͤpfung der Dichtungskraft, und die Reflexion ſtoͤrt das geheime Werk der Empfindung. Bunt zwar und prangend wie der Fruͤhling, den er beſang, iſt ſeine Dich- tung, ſeine Phantaſie iſt rege und thaͤtig, doch moͤchte man ſie eher veraͤnderlich als reich, eher ſpielend als * Man ſehe das Gedicht dieſes Nahmens in ſeinen Werken.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/36>, abgerufen am 25.04.2024.