Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.Erfahrung zurückkehrt, so verliert sich vieles, sehr vieles Ich nannte diesen Dichter vorzugsweise in der elegi- Vielleicht sollte ich, ehe ich dieses Gebiet verlasse, Erfahrung zuruͤckkehrt, ſo verliert ſich vieles, ſehr vieles Ich nannte dieſen Dichter vorzugsweiſe in der elegi- Vielleicht ſollte ich, ehe ich dieſes Gebiet verlaſſe, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0041" n="34"/> Erfahrung zuruͤckkehrt, ſo verliert ſich vieles, ſehr vieles<lb/> von jener enthuſiaſtiſchen Liebe, aber nichts von der Ach-<lb/> tung, die man einer ſo einzigen Erſcheinung, einem ſo<lb/> außerordentlichen Genius, einem ſo ſehr veredelten Ge-<lb/> fuͤhl, die der Deutſche beſonders einem ſo hohen Ver-<lb/> dienſte ſchuldig iſt.</p><lb/> <p>Ich nannte dieſen Dichter vorzugsweiſe in der elegi-<lb/> ſchen Gattung groß, und kaum wird es noͤthig ſeyn, die-<lb/> ſes Urtheil noch beſonders zu rechtfertigen. Faͤhig zu je-<lb/> der Energie und Meiſter auf dem ganzen Felde ſentimen-<lb/> taliſcher Dichtung kann er uns bald durch das hoͤchſte<lb/> Pathos erſchuͤttern, bald in himmliſch ſuͤſſe Empfindun-<lb/> gen wiegen; aber zu einer hohen geiſtreichen Wehmuth<lb/> neigt ſich doch uͤberwiegend ſein Herz, und wie erhaben<lb/> auch ſeine Harfe, ſeine Lyra toͤnt, ſo werden die ſchmel-<lb/> zenden Toͤne ſeiner Laute doch immer wahrer und tiefer<lb/> und beweglicher klingen. Ich berufe mich auf jedes rein<lb/> geſtimmte Gefuͤhl, ob es nicht alles Kuͤhne und Starke,<lb/> alle Fictionen, alle prachtvollen Beſchreibungen, alle<lb/> Muſter oratoriſcher Beredtſamkeit im Meſſias, alle ſchim-<lb/> mernden Gleichniſſe, worinn unſer Dichter ſo vorzuͤglich<lb/> gluͤcklich iſt, fuͤr die zarten Empfindungen hingeben wuͤrde,<lb/> welche in der Elegie an Ebert, in dem herrlichen Gedicht<lb/> Bardale, den fruͤhen Graͤbern, der Sommernacht, dem<lb/> Zuͤrcher See und mehrere andere aus dieſer Gattung<lb/> athmen. So iſt mir die Meſſiade als ein Schatz elegiſcher<lb/> Gefuͤhle und idealiſcher Schilderungen theuer, wie wenig<lb/> ſie mich auch als Darſtellung einer Handlung und als ein<lb/> epiſches Werk befriedigt.</p><lb/> <p>Vielleicht ſollte ich, ehe ich dieſes Gebiet verlaſſe,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [34/0041]
Erfahrung zuruͤckkehrt, ſo verliert ſich vieles, ſehr vieles
von jener enthuſiaſtiſchen Liebe, aber nichts von der Ach-
tung, die man einer ſo einzigen Erſcheinung, einem ſo
außerordentlichen Genius, einem ſo ſehr veredelten Ge-
fuͤhl, die der Deutſche beſonders einem ſo hohen Ver-
dienſte ſchuldig iſt.
Ich nannte dieſen Dichter vorzugsweiſe in der elegi-
ſchen Gattung groß, und kaum wird es noͤthig ſeyn, die-
ſes Urtheil noch beſonders zu rechtfertigen. Faͤhig zu je-
der Energie und Meiſter auf dem ganzen Felde ſentimen-
taliſcher Dichtung kann er uns bald durch das hoͤchſte
Pathos erſchuͤttern, bald in himmliſch ſuͤſſe Empfindun-
gen wiegen; aber zu einer hohen geiſtreichen Wehmuth
neigt ſich doch uͤberwiegend ſein Herz, und wie erhaben
auch ſeine Harfe, ſeine Lyra toͤnt, ſo werden die ſchmel-
zenden Toͤne ſeiner Laute doch immer wahrer und tiefer
und beweglicher klingen. Ich berufe mich auf jedes rein
geſtimmte Gefuͤhl, ob es nicht alles Kuͤhne und Starke,
alle Fictionen, alle prachtvollen Beſchreibungen, alle
Muſter oratoriſcher Beredtſamkeit im Meſſias, alle ſchim-
mernden Gleichniſſe, worinn unſer Dichter ſo vorzuͤglich
gluͤcklich iſt, fuͤr die zarten Empfindungen hingeben wuͤrde,
welche in der Elegie an Ebert, in dem herrlichen Gedicht
Bardale, den fruͤhen Graͤbern, der Sommernacht, dem
Zuͤrcher See und mehrere andere aus dieſer Gattung
athmen. So iſt mir die Meſſiade als ein Schatz elegiſcher
Gefuͤhle und idealiſcher Schilderungen theuer, wie wenig
ſie mich auch als Darſtellung einer Handlung und als ein
epiſches Werk befriedigt.
Vielleicht ſollte ich, ehe ich dieſes Gebiet verlaſſe,
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