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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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auch noch an die Verdienste eines Uz, Denis, Geßner
(in seinem Tod Abels) Jacobi, von Gerstenberg,
eines Hölty, von Göckingk, und mehrerer andern in
dieser Gattung erinnern, welche alle uns durch Ideen
rühren, und, in der oben festgesetzten Bedeutung des
Worts, sentimentalisch gedichtet haben. Aber mein Zweck
ist nicht, eine Geschichte der deutschen Dichtkunst zu schrei-
ben, sondern das oben gesagte durch einige Beyspiele
aus unsrer Litteratur klar zu machen. Die Verschieden-
heit des Weges wollte ich zeigen, auf welchem alte und
moderne, naive und sentimentalische Dichter zu dem nehm-
lichen Ziele gehen -- daß, wenn uns jene durch Natur,
Individualität und lebendige Sinnlichkeit rühren,
diese durch Ideen und hohe Geistigkeit eine eben so
große, wenn gleich keine so ausgebreitete, Macht über
unser Gemüth beweisen.

An den bisherigen Beyspielen hat man gesehen, wie
der sentimentalische Dichtergeist einen natürlichen Stoff
behandelt; man könnte aber auch interessiert seyn zu wis-
sen, wie der naive Dichtergeist mit einem sentimentalischen
Stoff verfährt. Völlig neu und von einer ganz eigenen
Schwierigkeit scheint diese Aufgabe zu seyn, da in der
alten und naiven Welt ein solcher Stoff sich nicht vor-
fand, in der neuen aber der Dichter dazu fehlen möchte.
Dennoch hat sich das Genie auch diese Aufgabe gemacht,
und auf eine bewundernswürdig glückliche Weise aufge-
lößt. Ein Charakter, der mit glühender Empfindung ein
Ideal umfaßt, und die Wirklichkeit fliehet, um nach ei-
nem wesenlosen Unendlichen zu ringen, der was er in sich
selbst unaufhörlich zerstört, unaufhörlich ausser sich su-
chet, dem nur seine Träume das Reelle, seine Erfahrun-

auch noch an die Verdienſte eines Uz, Denis, Geßner
(in ſeinem Tod Abels) Jacobi, von Gerſtenberg,
eines Hoͤlty, von Goͤckingk, und mehrerer andern in
dieſer Gattung erinnern, welche alle uns durch Ideen
ruͤhren, und, in der oben feſtgeſetzten Bedeutung des
Worts, ſentimentaliſch gedichtet haben. Aber mein Zweck
iſt nicht, eine Geſchichte der deutſchen Dichtkunſt zu ſchrei-
ben, ſondern das oben geſagte durch einige Beyſpiele
aus unſrer Litteratur klar zu machen. Die Verſchieden-
heit des Weges wollte ich zeigen, auf welchem alte und
moderne, naive und ſentimentaliſche Dichter zu dem nehm-
lichen Ziele gehen — daß, wenn uns jene durch Natur,
Individualitaͤt und lebendige Sinnlichkeit ruͤhren,
dieſe durch Ideen und hohe Geiſtigkeit eine eben ſo
große, wenn gleich keine ſo ausgebreitete, Macht uͤber
unſer Gemuͤth beweiſen.

An den bisherigen Beyſpielen hat man geſehen, wie
der ſentimentaliſche Dichtergeiſt einen natuͤrlichen Stoff
behandelt; man koͤnnte aber auch intereſſiert ſeyn zu wiſ-
ſen, wie der naive Dichtergeiſt mit einem ſentimentaliſchen
Stoff verfaͤhrt. Voͤllig neu und von einer ganz eigenen
Schwierigkeit ſcheint dieſe Aufgabe zu ſeyn, da in der
alten und naiven Welt ein ſolcher Stoff ſich nicht vor-
fand, in der neuen aber der Dichter dazu fehlen moͤchte.
Dennoch hat ſich das Genie auch dieſe Aufgabe gemacht,
und auf eine bewundernswuͤrdig gluͤckliche Weiſe aufge-
loͤßt. Ein Charakter, der mit gluͤhender Empfindung ein
Ideal umfaßt, und die Wirklichkeit fliehet, um nach ei-
nem weſenloſen Unendlichen zu ringen, der was er in ſich
ſelbſt unaufhoͤrlich zerſtoͤrt, unaufhoͤrlich auſſer ſich ſu-
chet, dem nur ſeine Traͤume das Reelle, ſeine Erfahrun-

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[35/0042] auch noch an die Verdienſte eines Uz, Denis, Geßner (in ſeinem Tod Abels) Jacobi, von Gerſtenberg, eines Hoͤlty, von Goͤckingk, und mehrerer andern in dieſer Gattung erinnern, welche alle uns durch Ideen ruͤhren, und, in der oben feſtgeſetzten Bedeutung des Worts, ſentimentaliſch gedichtet haben. Aber mein Zweck iſt nicht, eine Geſchichte der deutſchen Dichtkunſt zu ſchrei- ben, ſondern das oben geſagte durch einige Beyſpiele aus unſrer Litteratur klar zu machen. Die Verſchieden- heit des Weges wollte ich zeigen, auf welchem alte und moderne, naive und ſentimentaliſche Dichter zu dem nehm- lichen Ziele gehen — daß, wenn uns jene durch Natur, Individualitaͤt und lebendige Sinnlichkeit ruͤhren, dieſe durch Ideen und hohe Geiſtigkeit eine eben ſo große, wenn gleich keine ſo ausgebreitete, Macht uͤber unſer Gemuͤth beweiſen. An den bisherigen Beyſpielen hat man geſehen, wie der ſentimentaliſche Dichtergeiſt einen natuͤrlichen Stoff behandelt; man koͤnnte aber auch intereſſiert ſeyn zu wiſ- ſen, wie der naive Dichtergeiſt mit einem ſentimentaliſchen Stoff verfaͤhrt. Voͤllig neu und von einer ganz eigenen Schwierigkeit ſcheint dieſe Aufgabe zu ſeyn, da in der alten und naiven Welt ein ſolcher Stoff ſich nicht vor- fand, in der neuen aber der Dichter dazu fehlen moͤchte. Dennoch hat ſich das Genie auch dieſe Aufgabe gemacht, und auf eine bewundernswuͤrdig gluͤckliche Weiſe aufge- loͤßt. Ein Charakter, der mit gluͤhender Empfindung ein Ideal umfaßt, und die Wirklichkeit fliehet, um nach ei- nem weſenloſen Unendlichen zu ringen, der was er in ſich ſelbſt unaufhoͤrlich zerſtoͤrt, unaufhoͤrlich auſſer ſich ſu- chet, dem nur ſeine Traͤume das Reelle, ſeine Erfahrun-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/42>, abgerufen am 19.04.2024.