Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.len Klassen von Lesern ohne Ausnahme gefallen, weil er Also auch hier in der Idylle wie in allen andern poe- len Klaſſen von Leſern ohne Ausnahme gefallen, weil er Alſo auch hier in der Idylle wie in allen andern poe- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0059" n="52"/> len Klaſſen von Leſern ohne Ausnahme gefallen, weil er<lb/> das Naive mit dem Sentimentalen zu vereinigen ſtrebt,<lb/> und folglich den zwey entgegengeſetzten Foderungen, die an<lb/> ein Gedicht gemacht werden koͤnnen, in einem gewiſſen<lb/> Grade Genuͤge leiſtet; weil aber der Dichter, uͤber der<lb/> Bemuͤhung, beydes zu vereinigen, keinem von beyden ſein<lb/><hi rendition="#g">volles Recht erweißt</hi>, weder ganz Natur noch ganz<lb/> Ideal iſt, ſo kann er eben deßwegen vor einem ſtrengen<lb/> Geſchmack nicht ganz beſtehen, der in aeſthetiſchen Din-<lb/> gen nichts halbes verzeyhen kann. Es iſt ſonderbar, daß<lb/> dieſe Halbheit ſich auch biß auf die Sprache des genannten<lb/> Dichters erſtreckt, die zwiſchen Poeſie und Proſa unent-<lb/> ſchieden ſchwankt, als fuͤrchtete der Dichter in gebundener<lb/> Rede ſich von der wirklichen Natur zu weit zu entfernen,<lb/> und in ungebundener den poetiſchen Schwung zu verlie-<lb/> ren. Eine hoͤhere Befriedigung gewaͤhrt Miltons herr-<lb/> liche Darſtellung des erſten Menſchenpaares und des Stan-<lb/> des der Unſchuld im Paradieſe; die ſchoͤnſte, mir bekannte<lb/> Idylle in der ſentimentaliſchen Gattung. Hier iſt die<lb/> Natur edel, geiſtreich, zugleich voll Flaͤche und voll<lb/> Tiefe, der hoͤchſte Gehalt der Menſchheit iſt in die an-<lb/> muthigſte Form eingekleidet.</p><lb/> <p>Alſo auch hier in der Idylle wie in allen andern poe-<lb/> tiſchen Gattungen, muß man einmal fuͤr allemal zwiſchen<lb/> der Individualitaͤt und der Idealitaͤt eine Wahl treffen,<lb/> denn beyden Foderungen zugleich Genuͤge leiſten wollen,<lb/> iſt, ſolange man nicht am Ziel der Vollkommenheit ſtehet,<lb/> der ſicherſte Weg, beyde zugleich zu verfehlen. Fuͤhlt ſich<lb/> der Moderne griechiſchen Geiſtes genug, um bey aller<lb/> Widerſpenſtigkeit ſeines Stoffs mit den Griechen auf ih-<lb/> rem eigenen Felde, nehmlich im Felde naiver Dichtung,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [52/0059]
len Klaſſen von Leſern ohne Ausnahme gefallen, weil er
das Naive mit dem Sentimentalen zu vereinigen ſtrebt,
und folglich den zwey entgegengeſetzten Foderungen, die an
ein Gedicht gemacht werden koͤnnen, in einem gewiſſen
Grade Genuͤge leiſtet; weil aber der Dichter, uͤber der
Bemuͤhung, beydes zu vereinigen, keinem von beyden ſein
volles Recht erweißt, weder ganz Natur noch ganz
Ideal iſt, ſo kann er eben deßwegen vor einem ſtrengen
Geſchmack nicht ganz beſtehen, der in aeſthetiſchen Din-
gen nichts halbes verzeyhen kann. Es iſt ſonderbar, daß
dieſe Halbheit ſich auch biß auf die Sprache des genannten
Dichters erſtreckt, die zwiſchen Poeſie und Proſa unent-
ſchieden ſchwankt, als fuͤrchtete der Dichter in gebundener
Rede ſich von der wirklichen Natur zu weit zu entfernen,
und in ungebundener den poetiſchen Schwung zu verlie-
ren. Eine hoͤhere Befriedigung gewaͤhrt Miltons herr-
liche Darſtellung des erſten Menſchenpaares und des Stan-
des der Unſchuld im Paradieſe; die ſchoͤnſte, mir bekannte
Idylle in der ſentimentaliſchen Gattung. Hier iſt die
Natur edel, geiſtreich, zugleich voll Flaͤche und voll
Tiefe, der hoͤchſte Gehalt der Menſchheit iſt in die an-
muthigſte Form eingekleidet.
Alſo auch hier in der Idylle wie in allen andern poe-
tiſchen Gattungen, muß man einmal fuͤr allemal zwiſchen
der Individualitaͤt und der Idealitaͤt eine Wahl treffen,
denn beyden Foderungen zugleich Genuͤge leiſten wollen,
iſt, ſolange man nicht am Ziel der Vollkommenheit ſtehet,
der ſicherſte Weg, beyde zugleich zu verfehlen. Fuͤhlt ſich
der Moderne griechiſchen Geiſtes genug, um bey aller
Widerſpenſtigkeit ſeines Stoffs mit den Griechen auf ih-
rem eigenen Felde, nehmlich im Felde naiver Dichtung,
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