Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.zu ringen, so thue er es ganz, und thue es ausschließend, * Mit einem solchen Werke hat Herr Voß noch kürzlich in
seiner Luise unsre deutsche Litteratur nicht bloß bereichert, sondern auch wahrhaft erweitert. Diese Idylle, obgleich nicht durchaus von sentimentalischen Einflüssen frey, gehört ganz zum naiven Geschlecht und ringt durch individuelle Wahrheit und gediegene Natur den besten griechischen Mu- stern mit seltnem Erfolge nach. Sie kann daher, was ihr zu hohem Ruhm gereicht, mit keinem modernen Gedicht aus ihrem Fache, sondern muß mit griechischen Mustern vergli- chen werden, mit welchen sie auch den so seltenen Vorzug theilt, uns einen reinen, bestimmten und immer gleichen Genuß zu gewähren. zu ringen, ſo thue er es ganz, und thue es ausſchließend, * Mit einem ſolchen Werke hat Herr Voß noch kuͤrzlich in
ſeiner Luiſe unſre deutſche Litteratur nicht bloß bereichert, ſondern auch wahrhaft erweitert. Dieſe Idylle, obgleich nicht durchaus von ſentimentaliſchen Einfluͤſſen frey, gehoͤrt ganz zum naiven Geſchlecht und ringt durch individuelle Wahrheit und gediegene Natur den beſten griechiſchen Mu- ſtern mit ſeltnem Erfolge nach. Sie kann daher, was ihr zu hohem Ruhm gereicht, mit keinem modernen Gedicht aus ihrem Fache, ſondern muß mit griechiſchen Muſtern vergli- chen werden, mit welchen ſie auch den ſo ſeltenen Vorzug theilt, uns einen reinen, beſtimmten und immer gleichen Genuß zu gewaͤhren. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0060" n="53"/> zu ringen, ſo thue er es ganz, und thue es ausſchließend,<lb/> und ſetze ſich uͤber jede Foderung des ſentimentaliſchen<lb/> Zeitgeſchmacks hinweg. Erreichen zwar duͤrfte er ſeine<lb/> Muſter ſchwerlich; zwiſchen dem Original und dem gluͤck-<lb/> lichſten Nachahmer wird immer eine merkliche Diſtanz<lb/> offen bleiben, aber er iſt auf dieſem Wege doch gewiß,<lb/> ein aͤcht poetiſches Werk zu erzeugen. <note place="foot" n="*">Mit einem ſolchen Werke hat Herr <hi rendition="#g">Voß</hi> noch kuͤrzlich in<lb/> ſeiner Luiſe unſre deutſche Litteratur nicht bloß bereichert,<lb/> ſondern auch wahrhaft erweitert. Dieſe Idylle, obgleich<lb/> nicht durchaus von ſentimentaliſchen Einfluͤſſen frey, gehoͤrt<lb/> ganz zum naiven Geſchlecht und ringt durch individuelle<lb/> Wahrheit und gediegene Natur den beſten griechiſchen Mu-<lb/> ſtern mit ſeltnem Erfolge nach. Sie kann daher, was ihr<lb/> zu hohem Ruhm gereicht, mit keinem modernen Gedicht aus<lb/> ihrem Fache, ſondern muß mit griechiſchen Muſtern vergli-<lb/> chen werden, mit welchen ſie auch den ſo ſeltenen Vorzug<lb/> theilt, uns einen reinen, beſtimmten und immer gleichen<lb/> Genuß zu gewaͤhren.</note> Treibt ihn hin-<lb/> gegen der ſentimentaliſche Dichtungstrieb zum Ideale,<lb/> ſo verfolge er auch dieſes ganz, in voͤlliger Reinheit,<lb/> und ſtehe nicht eher als bey dem Hoͤchſten ſtille, ohne hin-<lb/> ter ſich zu ſchauen, ob auch die Wirklichkeit ihm nach-<lb/> kommen moͤchte. Er verſchmaͤhe den unwuͤrdigen Aus-<lb/> weg, den Gehalt des Ideals zu verſchlechtern, um es<lb/> der menſchlichen Beduͤrftigkeit anzupaſſen, und den Geiſt<lb/> auszuſchließen, um mit dem Herzen ein leichteres Spiel<lb/> zu haben. Er fuͤhre uns nicht ruͤckwaͤrts in unſre Kind-<lb/> heit, um uns mit den koſtbarſten Erwerbungen des Ver-<lb/> ſtandes eine Ruhe erkaufen zu laſſen, die nicht laͤnger<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [53/0060]
zu ringen, ſo thue er es ganz, und thue es ausſchließend,
und ſetze ſich uͤber jede Foderung des ſentimentaliſchen
Zeitgeſchmacks hinweg. Erreichen zwar duͤrfte er ſeine
Muſter ſchwerlich; zwiſchen dem Original und dem gluͤck-
lichſten Nachahmer wird immer eine merkliche Diſtanz
offen bleiben, aber er iſt auf dieſem Wege doch gewiß,
ein aͤcht poetiſches Werk zu erzeugen. * Treibt ihn hin-
gegen der ſentimentaliſche Dichtungstrieb zum Ideale,
ſo verfolge er auch dieſes ganz, in voͤlliger Reinheit,
und ſtehe nicht eher als bey dem Hoͤchſten ſtille, ohne hin-
ter ſich zu ſchauen, ob auch die Wirklichkeit ihm nach-
kommen moͤchte. Er verſchmaͤhe den unwuͤrdigen Aus-
weg, den Gehalt des Ideals zu verſchlechtern, um es
der menſchlichen Beduͤrftigkeit anzupaſſen, und den Geiſt
auszuſchließen, um mit dem Herzen ein leichteres Spiel
zu haben. Er fuͤhre uns nicht ruͤckwaͤrts in unſre Kind-
heit, um uns mit den koſtbarſten Erwerbungen des Ver-
ſtandes eine Ruhe erkaufen zu laſſen, die nicht laͤnger
* Mit einem ſolchen Werke hat Herr Voß noch kuͤrzlich in
ſeiner Luiſe unſre deutſche Litteratur nicht bloß bereichert,
ſondern auch wahrhaft erweitert. Dieſe Idylle, obgleich
nicht durchaus von ſentimentaliſchen Einfluͤſſen frey, gehoͤrt
ganz zum naiven Geſchlecht und ringt durch individuelle
Wahrheit und gediegene Natur den beſten griechiſchen Mu-
ſtern mit ſeltnem Erfolge nach. Sie kann daher, was ihr
zu hohem Ruhm gereicht, mit keinem modernen Gedicht aus
ihrem Fache, ſondern muß mit griechiſchen Muſtern vergli-
chen werden, mit welchen ſie auch den ſo ſeltenen Vorzug
theilt, uns einen reinen, beſtimmten und immer gleichen
Genuß zu gewaͤhren.
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