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Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

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Man hat von manchem Monarchen gesagt: er würde ein sehr liebenswürdiger Privatmann gewesen seyn, nur zum Könige habe er nicht getaugt. Verhält es sich etwa mit der Bibel eben so? Jst sie auch bloß ein liebenswürdiges Privatbuch, das nur nicht Bibel seyn sollte?



Wenn junge Personen beyderley Geschlechts nach einer lustigen Musik zu tanzen wissen, so fällt es ihnen gar nicht ein, deshalb über die Tonkunst urtheilen zu wollen. Warum haben die Leute weniger Respekt vor der Poesie?



Schöner Muthwille im Vortrage ist das Einzige was die poetische Sittlichkeit lüsterner Schilderungen retten kann. Sie zeugen von Schlaffheit und Verkehrtheit wenn sich nicht überschäumende Fülle der Lebenskraft in ihnen offenbart. Die Einbildungskraft muß ausschweifen wollen, nicht dem herrschenden Hange der Sinne knechtisch nachzugeben gewohnt seyn. Und doch findet man unter uns meistens die fröhliche Leichtfertigkeit am verdammlichsten; hingegen hat man das stärkste in dieser Art verziehen, wenn es mit einer fantastischen Mystik der Sinnlichkeit umgeben war. Als ob eine Schlechtigkeit durch eine Tollheit wieder gut gemacht würde!



Der Selbstmord ist gewöhnlich nur eine Begebenheit, selten eine Handlung. Jst es das erste, so hat der Thäter immer Unrecht, wie ein Kind, das sich

Man hat von manchem Monarchen gesagt: er wuͤrde ein sehr liebenswuͤrdiger Privatmann gewesen seyn, nur zum Koͤnige habe er nicht getaugt. Verhaͤlt es sich etwa mit der Bibel eben so? Jst sie auch bloß ein liebenswuͤrdiges Privatbuch, das nur nicht Bibel seyn sollte?



Wenn junge Personen beyderley Geschlechts nach einer lustigen Musik zu tanzen wissen, so faͤllt es ihnen gar nicht ein, deshalb uͤber die Tonkunst urtheilen zu wollen. Warum haben die Leute weniger Respekt vor der Poesie?



Schoͤner Muthwille im Vortrage ist das Einzige was die poetische Sittlichkeit luͤsterner Schilderungen retten kann. Sie zeugen von Schlaffheit und Verkehrtheit wenn sich nicht uͤberschaͤumende Fuͤlle der Lebenskraft in ihnen offenbart. Die Einbildungskraft muß ausschweifen wollen, nicht dem herrschenden Hange der Sinne knechtisch nachzugeben gewohnt seyn. Und doch findet man unter uns meistens die froͤhliche Leichtfertigkeit am verdammlichsten; hingegen hat man das staͤrkste in dieser Art verziehen, wenn es mit einer fantastischen Mystik der Sinnlichkeit umgeben war. Als ob eine Schlechtigkeit durch eine Tollheit wieder gut gemacht wuͤrde!



Der Selbstmord ist gewoͤhnlich nur eine Begebenheit, selten eine Handlung. Jst es das erste, so hat der Thaͤter immer Unrecht, wie ein Kind, das sich

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[5/0194] Man hat von manchem Monarchen gesagt: er wuͤrde ein sehr liebenswuͤrdiger Privatmann gewesen seyn, nur zum Koͤnige habe er nicht getaugt. Verhaͤlt es sich etwa mit der Bibel eben so? Jst sie auch bloß ein liebenswuͤrdiges Privatbuch, das nur nicht Bibel seyn sollte? Wenn junge Personen beyderley Geschlechts nach einer lustigen Musik zu tanzen wissen, so faͤllt es ihnen gar nicht ein, deshalb uͤber die Tonkunst urtheilen zu wollen. Warum haben die Leute weniger Respekt vor der Poesie? Schoͤner Muthwille im Vortrage ist das Einzige was die poetische Sittlichkeit luͤsterner Schilderungen retten kann. Sie zeugen von Schlaffheit und Verkehrtheit wenn sich nicht uͤberschaͤumende Fuͤlle der Lebenskraft in ihnen offenbart. Die Einbildungskraft muß ausschweifen wollen, nicht dem herrschenden Hange der Sinne knechtisch nachzugeben gewohnt seyn. Und doch findet man unter uns meistens die froͤhliche Leichtfertigkeit am verdammlichsten; hingegen hat man das staͤrkste in dieser Art verziehen, wenn es mit einer fantastischen Mystik der Sinnlichkeit umgeben war. Als ob eine Schlechtigkeit durch eine Tollheit wieder gut gemacht wuͤrde! Der Selbstmord ist gewoͤhnlich nur eine Begebenheit, selten eine Handlung. Jst es das erste, so hat der Thaͤter immer Unrecht, wie ein Kind, das sich

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Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/194>, abgerufen am 17.05.2024.