Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.Christus ist jetzt verschiedentlich a priori deduzirt worden: aber sollte die Madonna nicht eben so viel Anspruch haben, auch ein ursprüngliches, ewiges, nothwendiges Jdeal wenn gleich nicht der reinen, doch der weiblichen und männlichen Vernunft zu seyn? Es ist ein grobes, doch immer noch gemeines Mißverständniß, daß man glaubt, um ein Jdeal darzustellen, müße ein so zahlreiches Aggregat von Tugenden wie möglich auf einen Namen zusammengepackt, ein ganzes Kompendium der Moral in einem Menschen aufgestellt werden; wodurch nichts erlangt wird als Auslöschung der Jndividualität und Wahrheit. Das Jdeale liegt nicht in der Quantität sondern in der Qualität. Grandison ist ein Exempel, und kein Jdeal. Humor ist gleichsam der Witz der Empfindung. Er darf sich daher mit Bewußtseyn äußern: aber er ist nicht ächt, sobald man Vorsatz dabei wahrnimmt. Es giebt eine Poesie, deren Eins und Alles das Verhältniß des Jdealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transcendentalpoesie heißen müßte. Sie beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Jdealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Jdylle mit der absoluten Jdentität beyder. So wie man aber wenig Werth auf eine Transcendentalphilosophie legen würde, die nicht kritisch wäre, Christus ist jetzt verschiedentlich a priori deduzirt worden: aber sollte die Madonna nicht eben so viel Anspruch haben, auch ein urspruͤngliches, ewiges, nothwendiges Jdeal wenn gleich nicht der reinen, doch der weiblichen und maͤnnlichen Vernunft zu seyn? Es ist ein grobes, doch immer noch gemeines Mißverstaͤndniß, daß man glaubt, um ein Jdeal darzustellen, muͤße ein so zahlreiches Aggregat von Tugenden wie moͤglich auf einen Namen zusammengepackt, ein ganzes Kompendium der Moral in einem Menschen aufgestellt werden; wodurch nichts erlangt wird als Ausloͤschung der Jndividualitaͤt und Wahrheit. Das Jdeale liegt nicht in der Quantitaͤt sondern in der Qualitaͤt. Grandison ist ein Exempel, und kein Jdeal. Humor ist gleichsam der Witz der Empfindung. Er darf sich daher mit Bewußtseyn aͤußern: aber er ist nicht aͤcht, sobald man Vorsatz dabei wahrnimmt. Es giebt eine Poesie, deren Eins und Alles das Verhaͤltniß des Jdealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transcendentalpoesie heißen muͤßte. Sie beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Jdealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Jdylle mit der absoluten Jdentitaͤt beyder. So wie man aber wenig Werth auf eine Transcendentalphilosophie legen wuͤrde, die nicht kritisch waͤre, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0253" n="64"/> <p>Christus ist jetzt verschiedentlich <foreign xml:lang="la">a priori</foreign> deduzirt worden: aber sollte die Madonna nicht eben so viel Anspruch haben, auch ein urspruͤngliches, ewiges, nothwendiges Jdeal wenn gleich nicht der reinen, doch der weiblichen und maͤnnlichen Vernunft zu seyn?</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Es ist ein grobes, doch immer noch gemeines Mißverstaͤndniß, daß man glaubt, um ein Jdeal darzustellen, muͤße ein so zahlreiches Aggregat von Tugenden wie moͤglich auf einen Namen zusammengepackt, ein ganzes Kompendium der Moral in einem Menschen aufgestellt werden; wodurch nichts erlangt wird als Ausloͤschung der Jndividualitaͤt und Wahrheit. Das Jdeale liegt nicht in der Quantitaͤt sondern in der Qualitaͤt. Grandison ist ein Exempel, und kein Jdeal.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Humor ist gleichsam der Witz der Empfindung. Er darf sich daher mit Bewußtseyn aͤußern: aber er ist nicht aͤcht, sobald man Vorsatz dabei wahrnimmt.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Es giebt eine Poesie, deren Eins und Alles das Verhaͤltniß des Jdealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transcendentalpoesie heißen muͤßte. Sie beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Jdealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Jdylle mit der absoluten Jdentitaͤt beyder. So wie man aber wenig Werth auf eine Transcendentalphilosophie legen wuͤrde, die nicht kritisch waͤre,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [64/0253]
Christus ist jetzt verschiedentlich a priori deduzirt worden: aber sollte die Madonna nicht eben so viel Anspruch haben, auch ein urspruͤngliches, ewiges, nothwendiges Jdeal wenn gleich nicht der reinen, doch der weiblichen und maͤnnlichen Vernunft zu seyn?
Es ist ein grobes, doch immer noch gemeines Mißverstaͤndniß, daß man glaubt, um ein Jdeal darzustellen, muͤße ein so zahlreiches Aggregat von Tugenden wie moͤglich auf einen Namen zusammengepackt, ein ganzes Kompendium der Moral in einem Menschen aufgestellt werden; wodurch nichts erlangt wird als Ausloͤschung der Jndividualitaͤt und Wahrheit. Das Jdeale liegt nicht in der Quantitaͤt sondern in der Qualitaͤt. Grandison ist ein Exempel, und kein Jdeal.
Humor ist gleichsam der Witz der Empfindung. Er darf sich daher mit Bewußtseyn aͤußern: aber er ist nicht aͤcht, sobald man Vorsatz dabei wahrnimmt.
Es giebt eine Poesie, deren Eins und Alles das Verhaͤltniß des Jdealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transcendentalpoesie heißen muͤßte. Sie beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Jdealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Jdylle mit der absoluten Jdentitaͤt beyder. So wie man aber wenig Werth auf eine Transcendentalphilosophie legen wuͤrde, die nicht kritisch waͤre,
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