Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.über Nichts in Affekt gerathen und ohne Veranlassung fantasiren kann. Sittliche Reizbarkeit ist mit einem gänzlichen Mangel an poetischem Gefühl sehr gut vereinbar. Soll denn die Poesie schlechthin eingetheilt seyn? oder soll sie die eine und untheilbare bleiben? oder wechseln zwischen Trennung und Verbindung? Die meisten Vorstellungsarten vom poetischen Weltsystem sind noch so roh und kindisch, wie die älteren vom astronomischen vor Kopernikus. Die gewöhnlichen Eintheilungen der Poesie sind nur todtes Fachwerk für einen beschränkten Horizont. Was einer machen kann, oder was eben gilt, ist die ruhende Erde im Mittelpunkt. Jm Universum der Poesie selbst aber ruht nichts, alles wird und verwandelt sich und bewegt sich harmonisch; und auch die Kometen haben unabänderliche Bewegungsgesetze. Ehe sich aber der Lauf dieser Gestirne nicht berechnen, ihre Wiederkunft nicht vorherbestimmen läßt, ist das wahre Weltsystem der Poesie noch nicht entdeckt. Einige Grammatiker scheinen den Grundsatz des alten Völkerrechts, daß jeder Fremde ein Feind sey, in die Sprache einführen zu wollen. Aber ein Autor, der auch ohne ausländische Worte fertig zu werden weiß, wird sich immer berechtigt halten dürfen, sie zu brauchen, wo der Karakter der Gattung selbst ein Kolorit der Universalität fodert oder wünscht; und ein historischer Geist wird sich immer für alte Worte, uͤber Nichts in Affekt gerathen und ohne Veranlassung fantasiren kann. Sittliche Reizbarkeit ist mit einem gaͤnzlichen Mangel an poetischem Gefuͤhl sehr gut vereinbar. Soll denn die Poesie schlechthin eingetheilt seyn? oder soll sie die eine und untheilbare bleiben? oder wechseln zwischen Trennung und Verbindung? Die meisten Vorstellungsarten vom poetischen Weltsystem sind noch so roh und kindisch, wie die aͤlteren vom astronomischen vor Kopernikus. Die gewoͤhnlichen Eintheilungen der Poesie sind nur todtes Fachwerk fuͤr einen beschraͤnkten Horizont. Was einer machen kann, oder was eben gilt, ist die ruhende Erde im Mittelpunkt. Jm Universum der Poesie selbst aber ruht nichts, alles wird und verwandelt sich und bewegt sich harmonisch; und auch die Kometen haben unabaͤnderliche Bewegungsgesetze. Ehe sich aber der Lauf dieser Gestirne nicht berechnen, ihre Wiederkunft nicht vorherbestimmen laͤßt, ist das wahre Weltsystem der Poesie noch nicht entdeckt. Einige Grammatiker scheinen den Grundsatz des alten Voͤlkerrechts, daß jeder Fremde ein Feind sey, in die Sprache einfuͤhren zu wollen. Aber ein Autor, der auch ohne auslaͤndische Worte fertig zu werden weiß, wird sich immer berechtigt halten duͤrfen, sie zu brauchen, wo der Karakter der Gattung selbst ein Kolorit der Universalitaͤt fodert oder wuͤnscht; und ein historischer Geist wird sich immer fuͤr alte Worte, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0330" n="141"/> uͤber Nichts in Affekt gerathen und ohne Veranlassung fantasiren kann. Sittliche Reizbarkeit ist mit einem gaͤnzlichen Mangel an poetischem Gefuͤhl sehr gut vereinbar.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Soll denn die Poesie schlechthin eingetheilt seyn? oder soll sie die eine und untheilbare bleiben? oder wechseln zwischen Trennung und Verbindung? Die meisten Vorstellungsarten vom poetischen Weltsystem sind noch so roh und kindisch, wie die aͤlteren vom astronomischen vor Kopernikus. Die gewoͤhnlichen Eintheilungen der Poesie sind nur todtes Fachwerk fuͤr einen beschraͤnkten Horizont. Was einer machen kann, oder was eben gilt, ist die ruhende Erde im Mittelpunkt. Jm Universum der Poesie selbst aber ruht nichts, alles wird und verwandelt sich und bewegt sich harmonisch; und auch die Kometen haben unabaͤnderliche Bewegungsgesetze. Ehe sich aber der Lauf dieser Gestirne nicht berechnen, ihre Wiederkunft nicht vorherbestimmen laͤßt, ist das wahre Weltsystem der Poesie noch nicht entdeckt.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Einige Grammatiker scheinen den Grundsatz des alten Voͤlkerrechts, daß jeder Fremde ein Feind sey, in die Sprache einfuͤhren zu wollen. Aber ein Autor, der auch ohne auslaͤndische Worte fertig zu werden weiß, wird sich immer berechtigt halten duͤrfen, sie zu brauchen, wo der Karakter der Gattung selbst ein Kolorit der Universalitaͤt fodert oder wuͤnscht; und ein historischer Geist wird sich immer fuͤr alte Worte,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [141/0330]
uͤber Nichts in Affekt gerathen und ohne Veranlassung fantasiren kann. Sittliche Reizbarkeit ist mit einem gaͤnzlichen Mangel an poetischem Gefuͤhl sehr gut vereinbar.
Soll denn die Poesie schlechthin eingetheilt seyn? oder soll sie die eine und untheilbare bleiben? oder wechseln zwischen Trennung und Verbindung? Die meisten Vorstellungsarten vom poetischen Weltsystem sind noch so roh und kindisch, wie die aͤlteren vom astronomischen vor Kopernikus. Die gewoͤhnlichen Eintheilungen der Poesie sind nur todtes Fachwerk fuͤr einen beschraͤnkten Horizont. Was einer machen kann, oder was eben gilt, ist die ruhende Erde im Mittelpunkt. Jm Universum der Poesie selbst aber ruht nichts, alles wird und verwandelt sich und bewegt sich harmonisch; und auch die Kometen haben unabaͤnderliche Bewegungsgesetze. Ehe sich aber der Lauf dieser Gestirne nicht berechnen, ihre Wiederkunft nicht vorherbestimmen laͤßt, ist das wahre Weltsystem der Poesie noch nicht entdeckt.
Einige Grammatiker scheinen den Grundsatz des alten Voͤlkerrechts, daß jeder Fremde ein Feind sey, in die Sprache einfuͤhren zu wollen. Aber ein Autor, der auch ohne auslaͤndische Worte fertig zu werden weiß, wird sich immer berechtigt halten duͤrfen, sie zu brauchen, wo der Karakter der Gattung selbst ein Kolorit der Universalitaͤt fodert oder wuͤnscht; und ein historischer Geist wird sich immer fuͤr alte Worte,
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