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Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

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konnte. Selbst die fremden Gegenstände mahlte er in der Beleuchtung und Farbe und mit solchen Schlagschatten, wie sie sich in diesem alles in seinem eignen Wiederscheine schauenden Geiste abspiegeln und darstellen mußten. Doch konnte es nicht seine Absicht seyn, hier tiefer und voller darzustellen, als für den Zweck des Ganzen nöthig und gut wäre; und noch weniger konnte es seine Pflicht seyn, einer bestimmten Wirklichkeit zu gleichen. Überhaupt gleichen die Karaktere in diesen Roman zwar durch die Art der Darstellung dem Portrait, ihrem Wesen nach aber sind sie mehr oder minder allgemein und allegorisch. Eben daher sind sie ein unerschöpflicher Stoff und die vortrefflichste Beyspielsammlung für sittliche und gesellschaftliche Untersuchungen. Für diesen Zweck müßten Gespräche über die Karaktere im Meister sehr interessant seyn können, obgleich sie zum Verständniß des Werks selbst nur etwa episodisch mitwirken könnten: aber Gespräche müßten es seyn, um schon durch die Form alle Einseitigkeit zu verbannen. Denn wenn ein Einzelner nur aus dem Standpunkte seiner Eigenthümlichkeit über jede dieser Personen räsonnirte und ein moralisches Gutachten fällte, das wäre wohl die unfruchtbarste unter allen möglichen Arten, den Wilhelm Meister anzusehn; und man würde am Ende nicht mehr daraus lernen, als daß der Redner über diese Gegenstände so, wie es nun lautete, gesinnt sey.

konnte. Selbst die fremden Gegenstaͤnde mahlte er in der Beleuchtung und Farbe und mit solchen Schlagschatten, wie sie sich in diesem alles in seinem eignen Wiederscheine schauenden Geiste abspiegeln und darstellen mußten. Doch konnte es nicht seine Absicht seyn, hier tiefer und voller darzustellen, als fuͤr den Zweck des Ganzen noͤthig und gut waͤre; und noch weniger konnte es seine Pflicht seyn, einer bestimmten Wirklichkeit zu gleichen. Überhaupt gleichen die Karaktere in diesen Roman zwar durch die Art der Darstellung dem Portrait, ihrem Wesen nach aber sind sie mehr oder minder allgemein und allegorisch. Eben daher sind sie ein unerschoͤpflicher Stoff und die vortrefflichste Beyspielsammlung fuͤr sittliche und gesellschaftliche Untersuchungen. Fuͤr diesen Zweck muͤßten Gespraͤche uͤber die Karaktere im Meister sehr interessant seyn koͤnnen, obgleich sie zum Verstaͤndniß des Werks selbst nur etwa episodisch mitwirken koͤnnten: aber Gespraͤche muͤßten es seyn, um schon durch die Form alle Einseitigkeit zu verbannen. Denn wenn ein Einzelner nur aus dem Standpunkte seiner Eigenthuͤmlichkeit uͤber jede dieser Personen raͤsonnirte und ein moralisches Gutachten faͤllte, das waͤre wohl die unfruchtbarste unter allen moͤglichen Arten, den Wilhelm Meister anzusehn; und man wuͤrde am Ende nicht mehr daraus lernen, als daß der Redner uͤber diese Gegenstaͤnde so, wie es nun lautete, gesinnt sey.

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[173/0362] konnte. Selbst die fremden Gegenstaͤnde mahlte er in der Beleuchtung und Farbe und mit solchen Schlagschatten, wie sie sich in diesem alles in seinem eignen Wiederscheine schauenden Geiste abspiegeln und darstellen mußten. Doch konnte es nicht seine Absicht seyn, hier tiefer und voller darzustellen, als fuͤr den Zweck des Ganzen noͤthig und gut waͤre; und noch weniger konnte es seine Pflicht seyn, einer bestimmten Wirklichkeit zu gleichen. Überhaupt gleichen die Karaktere in diesen Roman zwar durch die Art der Darstellung dem Portrait, ihrem Wesen nach aber sind sie mehr oder minder allgemein und allegorisch. Eben daher sind sie ein unerschoͤpflicher Stoff und die vortrefflichste Beyspielsammlung fuͤr sittliche und gesellschaftliche Untersuchungen. Fuͤr diesen Zweck muͤßten Gespraͤche uͤber die Karaktere im Meister sehr interessant seyn koͤnnen, obgleich sie zum Verstaͤndniß des Werks selbst nur etwa episodisch mitwirken koͤnnten: aber Gespraͤche muͤßten es seyn, um schon durch die Form alle Einseitigkeit zu verbannen. Denn wenn ein Einzelner nur aus dem Standpunkte seiner Eigenthuͤmlichkeit uͤber jede dieser Personen raͤsonnirte und ein moralisches Gutachten faͤllte, das waͤre wohl die unfruchtbarste unter allen moͤglichen Arten, den Wilhelm Meister anzusehn; und man wuͤrde am Ende nicht mehr daraus lernen, als daß der Redner uͤber diese Gegenstaͤnde so, wie es nun lautete, gesinnt sey.

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Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/362>, abgerufen am 17.05.2024.