Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.Deutscher. "Das war nun so ein Einfall eurer Theoristen." Grieche. Gleichwohl waren diesem Einfalle gemäß alle unsre Sylbenmaße erfunden worden, ehe es noch Theoristen gab. Wie sollen wir uns verstehn, wenn du solche Sätze nachsprichst? Fühlst du nicht, was der wagt, der in einer Sache, wo alles auf die sinnliche Anschauung ankommt, die ihm fehlt, den Kunstverständigen, welche sie hatten, entscheidend widerspricht? Klopstock mußte bey noch so tiefem Studium die alte Metrik durchaus verkennen, weil er sich über den ungültigen Gesichtspunkt seiner eignen Sprache nicht erheben konnte. Er scheint nicht selten zu vergessen, was er doch alles sehr gut weiß, daß unsre überhaupt weit leichter und flüchtiger forteilte, daß sie weit stärkere musikalische Akzente hatte; daß ihr Vortrag weit gesungner und in Versen weit abgemessener war; daß Metrik und Musik ursprünglich eins waren, und immer einig blieben; daß in allen Dichtarten die Kunst schon verfiel, sobald an die Stelle des Gesanges Deklamazion trat; daß selbst diese Deklamazion -- Poesie. Du ereiferst dich; streitet ruhig. Führe du die Vorzüge der begriffmäßig bestimmten Sylbenzeit an. Deutscher. Sie lassen sich unter wenige Hauptpunkte bringen, die aber von erstaunlichem Umfange sind. "Unsre Sylbenzeit legt den Nachdruck der Länge niemals an die unrechte Stelle, sondern immer dahin, wo er hin gehört." Deutscher. „Das war nun so ein Einfall eurer Theoristen.“ Grieche. Gleichwohl waren diesem Einfalle gemaͤß alle unsre Sylbenmaße erfunden worden, ehe es noch Theoristen gab. Wie sollen wir uns verstehn, wenn du solche Saͤtze nachsprichst? Fuͤhlst du nicht, was der wagt, der in einer Sache, wo alles auf die sinnliche Anschauung ankommt, die ihm fehlt, den Kunstverstaͤndigen, welche sie hatten, entscheidend widerspricht? Klopstock mußte bey noch so tiefem Studium die alte Metrik durchaus verkennen, weil er sich uͤber den unguͤltigen Gesichtspunkt seiner eignen Sprache nicht erheben konnte. Er scheint nicht selten zu vergessen, was er doch alles sehr gut weiß, daß unsre uͤberhaupt weit leichter und fluͤchtiger forteilte, daß sie weit staͤrkere musikalische Akzente hatte; daß ihr Vortrag weit gesungner und in Versen weit abgemessener war; daß Metrik und Musik urspruͤnglich eins waren, und immer einig blieben; daß in allen Dichtarten die Kunst schon verfiel, sobald an die Stelle des Gesanges Deklamazion trat; daß selbst diese Deklamazion — Poesie. Du ereiferst dich; streitet ruhig. Fuͤhre du die Vorzuͤge der begriffmaͤßig bestimmten Sylbenzeit an. Deutscher. Sie lassen sich unter wenige Hauptpunkte bringen, die aber von erstaunlichem Umfange sind. „Unsre Sylbenzeit legt den Nachdruck der Laͤnge niemals an die unrechte Stelle, sondern immer dahin, wo er hin gehoͤrt.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0045" n="34"/> <p><hi rendition="#g">Deutscher</hi>. „Das war nun so ein Einfall eurer Theoristen.“</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Grieche</hi>. Gleichwohl waren diesem Einfalle gemaͤß alle unsre Sylbenmaße erfunden worden, ehe es noch Theoristen gab. Wie sollen wir uns verstehn, wenn du solche Saͤtze nachsprichst? Fuͤhlst du nicht, was der wagt, der in einer Sache, wo alles auf die sinnliche Anschauung ankommt, die ihm fehlt, den Kunstverstaͤndigen, welche sie hatten, entscheidend widerspricht? Klopstock mußte bey noch so tiefem Studium die alte Metrik durchaus verkennen, weil er sich uͤber den unguͤltigen Gesichtspunkt seiner eignen Sprache nicht erheben konnte. Er scheint nicht selten zu vergessen, was er doch alles sehr gut weiß, daß unsre uͤberhaupt weit leichter und fluͤchtiger forteilte, daß sie weit staͤrkere musikalische Akzente hatte; daß ihr Vortrag weit gesungner und in Versen weit abgemessener war; daß Metrik und Musik urspruͤnglich eins waren, und immer einig blieben; daß in allen Dichtarten die Kunst schon verfiel, sobald an die Stelle des Gesanges Deklamazion trat; daß selbst diese Deklamazion —</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Poesie</hi>. Du ereiferst dich; streitet ruhig. Fuͤhre du die Vorzuͤge der begriffmaͤßig bestimmten Sylbenzeit an.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Deutscher</hi>. Sie lassen sich unter wenige Hauptpunkte bringen, die aber von erstaunlichem Umfange sind. „Unsre Sylbenzeit legt den Nachdruck der Laͤnge niemals an die unrechte Stelle, sondern immer dahin, wo er hin gehoͤrt.“</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [34/0045]
Deutscher. „Das war nun so ein Einfall eurer Theoristen.“
Grieche. Gleichwohl waren diesem Einfalle gemaͤß alle unsre Sylbenmaße erfunden worden, ehe es noch Theoristen gab. Wie sollen wir uns verstehn, wenn du solche Saͤtze nachsprichst? Fuͤhlst du nicht, was der wagt, der in einer Sache, wo alles auf die sinnliche Anschauung ankommt, die ihm fehlt, den Kunstverstaͤndigen, welche sie hatten, entscheidend widerspricht? Klopstock mußte bey noch so tiefem Studium die alte Metrik durchaus verkennen, weil er sich uͤber den unguͤltigen Gesichtspunkt seiner eignen Sprache nicht erheben konnte. Er scheint nicht selten zu vergessen, was er doch alles sehr gut weiß, daß unsre uͤberhaupt weit leichter und fluͤchtiger forteilte, daß sie weit staͤrkere musikalische Akzente hatte; daß ihr Vortrag weit gesungner und in Versen weit abgemessener war; daß Metrik und Musik urspruͤnglich eins waren, und immer einig blieben; daß in allen Dichtarten die Kunst schon verfiel, sobald an die Stelle des Gesanges Deklamazion trat; daß selbst diese Deklamazion —
Poesie. Du ereiferst dich; streitet ruhig. Fuͤhre du die Vorzuͤge der begriffmaͤßig bestimmten Sylbenzeit an.
Deutscher. Sie lassen sich unter wenige Hauptpunkte bringen, die aber von erstaunlichem Umfange sind. „Unsre Sylbenzeit legt den Nachdruck der Laͤnge niemals an die unrechte Stelle, sondern immer dahin, wo er hin gehoͤrt.“
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