Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.und man hat nur die Wahl, ob man sich dabey leidend verhalten will, oder ob man die Nothwendigkeit durch Anerkennung zur freyen Handlung adeln will. Eine merkwürdige Eigenheit Goethe's bemerkt man in seinen Verknüpfungen kleiner, unbedeutender Vorfälle mit wichtigern Begebenheiten. Er scheint keine andre Absicht dabey zu hegen, als die Einbildungskraft auf eine poetische Weise mit einem mysteriösen Spiel zu beschäftigen. Auch hier ist der sonderbare Genius der Natur auf die Spur gekommen, und hat ihr einen artigen Kunstgriff abgemerkt. Das gewöhnliche Leben ist voll ähnlicher Zufälle. Sie machen ein Spiel aus, das wie alles Spiel auf Überraschung und Täuschung hinausläuft. Mehre Sagen des gemeinen Lebens beruhn auf einer Bemerkung dieses verkehrten Zusammenhangs. So z. B. bedeuten böse Träume Glück; todtsagen langes Leben; ein Hase, der über'n Weg läuft, Unglück. Fast der ganze Aberglaube des gemeinen Volks beruht auf Deutungen dieses Spiels. Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transcendentalen Selbst zu bemächtigen, das Jch seines Jch's zugleich zu seyn. Um so weniger befremdlich ist der Mangel an vollständigem Sinn und Verstand für Andre. Ohne vollendetes Selbstverständniß wird man nie andere wahrhaft verstehn lernen. und man hat nur die Wahl, ob man sich dabey leidend verhalten will, oder ob man die Nothwendigkeit durch Anerkennung zur freyen Handlung adeln will. Eine merkwuͤrdige Eigenheit Goethe's bemerkt man in seinen Verknuͤpfungen kleiner, unbedeutender Vorfaͤlle mit wichtigern Begebenheiten. Er scheint keine andre Absicht dabey zu hegen, als die Einbildungskraft auf eine poetische Weise mit einem mysterioͤsen Spiel zu beschaͤftigen. Auch hier ist der sonderbare Genius der Natur auf die Spur gekommen, und hat ihr einen artigen Kunstgriff abgemerkt. Das gewoͤhnliche Leben ist voll aͤhnlicher Zufaͤlle. Sie machen ein Spiel aus, das wie alles Spiel auf Überraschung und Taͤuschung hinauslaͤuft. Mehre Sagen des gemeinen Lebens beruhn auf einer Bemerkung dieses verkehrten Zusammenhangs. So z. B. bedeuten boͤse Traͤume Gluͤck; todtsagen langes Leben; ein Hase, der uͤber'n Weg laͤuft, Ungluͤck. Fast der ganze Aberglaube des gemeinen Volks beruht auf Deutungen dieses Spiels. Die hoͤchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transcendentalen Selbst zu bemaͤchtigen, das Jch seines Jch's zugleich zu seyn. Um so weniger befremdlich ist der Mangel an vollstaͤndigem Sinn und Verstand fuͤr Andre. Ohne vollendetes Selbstverstaͤndniß wird man nie andere wahrhaft verstehn lernen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0089" n="78"/> und man hat nur die Wahl, ob man sich dabey leidend verhalten will, oder ob man die Nothwendigkeit durch Anerkennung zur freyen Handlung adeln will.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Eine merkwuͤrdige Eigenheit Goethe's bemerkt man in seinen Verknuͤpfungen kleiner, unbedeutender Vorfaͤlle mit wichtigern Begebenheiten. Er scheint keine andre Absicht dabey zu hegen, als die Einbildungskraft auf eine poetische Weise mit einem mysterioͤsen Spiel zu beschaͤftigen. Auch hier ist der sonderbare Genius der Natur auf die Spur gekommen, und hat ihr einen artigen Kunstgriff abgemerkt. Das gewoͤhnliche Leben ist voll aͤhnlicher Zufaͤlle. Sie machen ein Spiel aus, das wie alles Spiel auf Überraschung und Taͤuschung hinauslaͤuft.</p><lb/> <p>Mehre Sagen des gemeinen Lebens beruhn auf einer Bemerkung dieses verkehrten Zusammenhangs. So z. B. bedeuten boͤse Traͤume Gluͤck; todtsagen langes Leben; ein Hase, der uͤber'n Weg laͤuft, Ungluͤck. Fast der ganze Aberglaube des gemeinen Volks beruht auf Deutungen dieses Spiels.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Die hoͤchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transcendentalen Selbst zu bemaͤchtigen, das Jch seines Jch's zugleich zu seyn. Um so weniger befremdlich ist der Mangel an vollstaͤndigem Sinn und Verstand fuͤr Andre. Ohne vollendetes Selbstverstaͤndniß wird man nie andere wahrhaft verstehn lernen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [78/0089]
und man hat nur die Wahl, ob man sich dabey leidend verhalten will, oder ob man die Nothwendigkeit durch Anerkennung zur freyen Handlung adeln will.
Eine merkwuͤrdige Eigenheit Goethe's bemerkt man in seinen Verknuͤpfungen kleiner, unbedeutender Vorfaͤlle mit wichtigern Begebenheiten. Er scheint keine andre Absicht dabey zu hegen, als die Einbildungskraft auf eine poetische Weise mit einem mysterioͤsen Spiel zu beschaͤftigen. Auch hier ist der sonderbare Genius der Natur auf die Spur gekommen, und hat ihr einen artigen Kunstgriff abgemerkt. Das gewoͤhnliche Leben ist voll aͤhnlicher Zufaͤlle. Sie machen ein Spiel aus, das wie alles Spiel auf Überraschung und Taͤuschung hinauslaͤuft.
Mehre Sagen des gemeinen Lebens beruhn auf einer Bemerkung dieses verkehrten Zusammenhangs. So z. B. bedeuten boͤse Traͤume Gluͤck; todtsagen langes Leben; ein Hase, der uͤber'n Weg laͤuft, Ungluͤck. Fast der ganze Aberglaube des gemeinen Volks beruht auf Deutungen dieses Spiels.
Die hoͤchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transcendentalen Selbst zu bemaͤchtigen, das Jch seines Jch's zugleich zu seyn. Um so weniger befremdlich ist der Mangel an vollstaͤndigem Sinn und Verstand fuͤr Andre. Ohne vollendetes Selbstverstaͤndniß wird man nie andere wahrhaft verstehn lernen.
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