Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.zu werden. Hier erwarten wir daher unsern Künstler, und nicht vergeblich. Man kennt Reynolds Ugolino aus dem Kupferstiche: es ist ein alter Mann, der hungert, aber es ist nicht Ugolino. Ohne die große Kluft zwischen einem ausgeführten Gemählde und einer Skizze zu vergessen, kann man doch wohl sagen, daß Flaxman eine viel höhere Ansicht der Geschichte gefaßt hat. Das erste Blatt stellt die Gefangennehmung des Grafen und seiner Söhne vor. Er steht in der Mitte ganz nach vorn, an jeder Seite hat ihn ein bewaffneter Feind am Kragen und an den Knöcheln der Hände gepackt, die er zusammenballt. Auch in dieser Lage sieht man den mächtigen, herrschenden, unerschütterlichen Mann; die Knaben vor ihm, die sich brüderlich an einander schließen, sind nach Alter und Leidenschaft abgestuft: der eine niedergeschlagen, der andre verzweifelnd, der dritte ergrimmt, der kleinste kindisch weinend. Die rechts andringenden rauhen Krieger zeigen uns die Gewaltthätigkeit jener kraftvollen Zeiten, der Erzbischof Ruggieri, der links herumschleicht, die mönchische Einmischung in die bürgerlichen Parteyungen. Das zweyte Blatt geht gleich zum andern Ende des Trauerspiels im Kerker über: Jch rief die Todten noch drey Tage lang Und tappte, blind schon, über jeder Leiche. Die Söhne liegen neben einander ausgestreckt, der Vater über ihnen auf seinen Armen, in der Verkürzung, doch so, daß das Gesicht mit den erloschnen offnen Augen, ganz sichtbar, die furchtbare Mitte der Gruppe ausmacht. zu werden. Hier erwarten wir daher unsern Kuͤnstler, und nicht vergeblich. Man kennt Reynolds Ugolino aus dem Kupferstiche: es ist ein alter Mann, der hungert, aber es ist nicht Ugolino. Ohne die große Kluft zwischen einem ausgefuͤhrten Gemaͤhlde und einer Skizze zu vergessen, kann man doch wohl sagen, daß Flaxman eine viel hoͤhere Ansicht der Geschichte gefaßt hat. Das erste Blatt stellt die Gefangennehmung des Grafen und seiner Soͤhne vor. Er steht in der Mitte ganz nach vorn, an jeder Seite hat ihn ein bewaffneter Feind am Kragen und an den Knoͤcheln der Haͤnde gepackt, die er zusammenballt. Auch in dieser Lage sieht man den maͤchtigen, herrschenden, unerschuͤtterlichen Mann; die Knaben vor ihm, die sich bruͤderlich an einander schließen, sind nach Alter und Leidenschaft abgestuft: der eine niedergeschlagen, der andre verzweifelnd, der dritte ergrimmt, der kleinste kindisch weinend. Die rechts andringenden rauhen Krieger zeigen uns die Gewaltthaͤtigkeit jener kraftvollen Zeiten, der Erzbischof Ruggieri, der links herumschleicht, die moͤnchische Einmischung in die buͤrgerlichen Parteyungen. Das zweyte Blatt geht gleich zum andern Ende des Trauerspiels im Kerker uͤber: Jch rief die Todten noch drey Tage lang Und tappte, blind schon, uͤber jeder Leiche. Die Soͤhne liegen neben einander ausgestreckt, der Vater uͤber ihnen auf seinen Armen, in der Verkuͤrzung, doch so, daß das Gesicht mit den erloschnen offnen Augen, ganz sichtbar, die furchtbare Mitte der Gruppe ausmacht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0222" n="212"/> zu werden. Hier erwarten wir daher unsern Kuͤnstler, und nicht vergeblich. Man kennt Reynolds Ugolino aus dem Kupferstiche: es ist ein alter Mann, der hungert, aber es ist nicht Ugolino. Ohne die große Kluft zwischen einem ausgefuͤhrten Gemaͤhlde und einer Skizze zu vergessen, kann man doch wohl sagen, daß Flaxman eine viel hoͤhere Ansicht der Geschichte gefaßt hat. Das erste Blatt stellt die Gefangennehmung des Grafen und seiner Soͤhne vor. Er steht in der Mitte ganz nach vorn, an jeder Seite hat ihn ein bewaffneter Feind am Kragen und an den Knoͤcheln der Haͤnde gepackt, die er zusammenballt. Auch in dieser Lage sieht man den maͤchtigen, herrschenden, unerschuͤtterlichen Mann; die Knaben vor ihm, die sich bruͤderlich an einander schließen, sind nach Alter und Leidenschaft abgestuft: der eine niedergeschlagen, der andre verzweifelnd, der dritte ergrimmt, der kleinste kindisch weinend. Die rechts andringenden rauhen Krieger zeigen uns die Gewaltthaͤtigkeit jener kraftvollen Zeiten, der Erzbischof Ruggieri, der links herumschleicht, die moͤnchische Einmischung in die buͤrgerlichen Parteyungen. Das zweyte Blatt geht gleich zum andern Ende des Trauerspiels im Kerker uͤber:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Jch rief die Todten noch drey Tage lang</l><lb/> <l>Und tappte, blind schon, uͤber jeder Leiche.</l> </lg><lb/> <p>Die Soͤhne liegen neben einander ausgestreckt, der Vater uͤber ihnen auf seinen Armen, in der Verkuͤrzung, doch so, daß das Gesicht mit den erloschnen offnen Augen, ganz sichtbar, die furchtbare Mitte der Gruppe ausmacht.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [212/0222]
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Jch rief die Todten noch drey Tage lang
Und tappte, blind schon, uͤber jeder Leiche.
Die Soͤhne liegen neben einander ausgestreckt, der Vater uͤber ihnen auf seinen Armen, in der Verkuͤrzung, doch so, daß das Gesicht mit den erloschnen offnen Augen, ganz sichtbar, die furchtbare Mitte der Gruppe ausmacht.
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