Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.Die Szene, wie Francesca da Polenta mit ihrem Verwandten Paolo im Lanzelot liest, und eine Stelle des Buches den Liebenden zum ersten Kusse hinreißt, ist mit äußerster Zartheit behandelt. Francesca ist ganz Liebe, Sittsamkeit, Hingebung und schüchterner Widerstand, daß ihr Gemahl sie gleich jetzt belauscht, und also der Augenblick des ersten gegenseitigen Geständnisses mit der unglücklichen Entdeckung zusammenfällt, war eine nothwendige Abweichung von der Geschichte, weil den liebenswürdigen Verirrten selbst ihre Schuld, die schon den Moment der Verführung mit bangen Ahndungen umgiebt, nicht angesehen werden durfte: die Komposition nähert sich also der Absicht des Dichters von einer andern Seite wieder um so mehr. Wie pathetisch ist das nächste Blatt! Die beyden Geliebten als nackte Schatten, abgewandt, weinend und im Begriff vom Sturm weggewirbelt zu werden; Francesca hält die Hand vors Gesicht, aber der Schleyer ihrer langen Haare bedeckt nicht die zarte Bildung; Dante liegt vorn, vor Mitleid in Ohnmacht gefallen, hinter ihm kniet Virgil, der ihn mit wehmüthiger Miene anblickt. So oft die Darstellungen des Jnferno ein Aeußerstes im Ausdruck und den Bewegungen erfodern, hat der Künstler es immer erreicht, ohne es über die Gränze der Wahrheit mit Anmaaßung hervorzudrängen; mit dem Dichter einverstanden, bey welchem das Leiden eben durch das genaue Maaß unermeßlich wird, und der uns ganz in seiner Gewalt hat, wenn er beschreibt, der Jammer beym Eintritte in die Hölle sey so gewesen, -- Die Szene, wie Francesca da Polenta mit ihrem Verwandten Paolo im Lanzelot liest, und eine Stelle des Buches den Liebenden zum ersten Kusse hinreißt, ist mit aͤußerster Zartheit behandelt. Francesca ist ganz Liebe, Sittsamkeit, Hingebung und schuͤchterner Widerstand, daß ihr Gemahl sie gleich jetzt belauscht, und also der Augenblick des ersten gegenseitigen Gestaͤndnisses mit der ungluͤcklichen Entdeckung zusammenfaͤllt, war eine nothwendige Abweichung von der Geschichte, weil den liebenswuͤrdigen Verirrten selbst ihre Schuld, die schon den Moment der Verfuͤhrung mit bangen Ahndungen umgiebt, nicht angesehen werden durfte: die Komposition naͤhert sich also der Absicht des Dichters von einer andern Seite wieder um so mehr. Wie pathetisch ist das naͤchste Blatt! Die beyden Geliebten als nackte Schatten, abgewandt, weinend und im Begriff vom Sturm weggewirbelt zu werden; Francesca haͤlt die Hand vors Gesicht, aber der Schleyer ihrer langen Haare bedeckt nicht die zarte Bildung; Dante liegt vorn, vor Mitleid in Ohnmacht gefallen, hinter ihm kniet Virgil, der ihn mit wehmuͤthiger Miene anblickt. So oft die Darstellungen des Jnferno ein Aeußerstes im Ausdruck und den Bewegungen erfodern, hat der Kuͤnstler es immer erreicht, ohne es uͤber die Graͤnze der Wahrheit mit Anmaaßung hervorzudraͤngen; mit dem Dichter einverstanden, bey welchem das Leiden eben durch das genaue Maaß unermeßlich wird, und der uns ganz in seiner Gewalt hat, wenn er beschreibt, der Jammer beym Eintritte in die Hoͤlle sey so gewesen, — <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0223" n="213"/> <p>Die Szene, wie Francesca da Polenta mit ihrem Verwandten Paolo im Lanzelot liest, und eine Stelle des Buches den Liebenden zum ersten Kusse hinreißt, ist mit aͤußerster Zartheit behandelt. Francesca ist ganz Liebe, Sittsamkeit, Hingebung und schuͤchterner Widerstand, daß ihr Gemahl sie gleich jetzt belauscht, und also der Augenblick des ersten gegenseitigen Gestaͤndnisses mit der ungluͤcklichen Entdeckung zusammenfaͤllt, war eine nothwendige Abweichung von der Geschichte, weil den liebenswuͤrdigen Verirrten selbst ihre Schuld, die schon den Moment der Verfuͤhrung mit bangen Ahndungen umgiebt, nicht angesehen werden durfte: die Komposition naͤhert sich also der Absicht des Dichters von einer andern Seite wieder um so mehr. Wie pathetisch ist das naͤchste Blatt! Die beyden Geliebten als nackte Schatten, abgewandt, weinend und im Begriff vom Sturm weggewirbelt zu werden; Francesca haͤlt die Hand vors Gesicht, aber der Schleyer ihrer langen Haare bedeckt nicht die zarte Bildung; Dante liegt vorn, vor Mitleid in Ohnmacht gefallen, hinter ihm kniet Virgil, der ihn mit wehmuͤthiger Miene anblickt. So oft die Darstellungen des Jnferno ein Aeußerstes im Ausdruck und den Bewegungen erfodern, hat der Kuͤnstler es immer erreicht, ohne es uͤber die Graͤnze der Wahrheit mit Anmaaßung hervorzudraͤngen; mit dem Dichter einverstanden, bey welchem das Leiden eben durch das genaue Maaß unermeßlich wird, und der uns ganz in seiner Gewalt hat, wenn er beschreibt, der Jammer beym Eintritte in die Hoͤlle sey so gewesen, —</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [213/0223]
Die Szene, wie Francesca da Polenta mit ihrem Verwandten Paolo im Lanzelot liest, und eine Stelle des Buches den Liebenden zum ersten Kusse hinreißt, ist mit aͤußerster Zartheit behandelt. Francesca ist ganz Liebe, Sittsamkeit, Hingebung und schuͤchterner Widerstand, daß ihr Gemahl sie gleich jetzt belauscht, und also der Augenblick des ersten gegenseitigen Gestaͤndnisses mit der ungluͤcklichen Entdeckung zusammenfaͤllt, war eine nothwendige Abweichung von der Geschichte, weil den liebenswuͤrdigen Verirrten selbst ihre Schuld, die schon den Moment der Verfuͤhrung mit bangen Ahndungen umgiebt, nicht angesehen werden durfte: die Komposition naͤhert sich also der Absicht des Dichters von einer andern Seite wieder um so mehr. Wie pathetisch ist das naͤchste Blatt! Die beyden Geliebten als nackte Schatten, abgewandt, weinend und im Begriff vom Sturm weggewirbelt zu werden; Francesca haͤlt die Hand vors Gesicht, aber der Schleyer ihrer langen Haare bedeckt nicht die zarte Bildung; Dante liegt vorn, vor Mitleid in Ohnmacht gefallen, hinter ihm kniet Virgil, der ihn mit wehmuͤthiger Miene anblickt. So oft die Darstellungen des Jnferno ein Aeußerstes im Ausdruck und den Bewegungen erfodern, hat der Kuͤnstler es immer erreicht, ohne es uͤber die Graͤnze der Wahrheit mit Anmaaßung hervorzudraͤngen; mit dem Dichter einverstanden, bey welchem das Leiden eben durch das genaue Maaß unermeßlich wird, und der uns ganz in seiner Gewalt hat, wenn er beschreibt, der Jammer beym Eintritte in die Hoͤlle sey so gewesen, —
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