Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.

Bild:
<< vorherige Seite

und vielleicht ist das am meisten zu tadeln, daß der Zeichner sich überhaupt darauf eingelassen hat; denn auch treu nach dem Homer genommen, gäbe es immer nur einen abscheulichen Meerdrachen. Jn andern ähnlichen Fällen hat er sich vorsichtiger herausgezogen: der hundertarmige Briareus, von der Thetis zu Jupiters Schutz heraufgerufen, der, vollständig vorgestellt, wie eine Jndische Gottheit aussehen würde, kommt hier erst mit dem riesenhaften Kopfe aus der Erde hervor und greift vorläufig nur noch mit sechs Händen an die Kluft, die er sich öffnet. Die andringenden Haufen der Schatten, welche den Ulysses fürchten lassen, die Gorgo werde erscheinen, sind zwar gräßliche Larven, aber von mannichfaltigem und furchtbarem Ausdruck. -- Man kann keine sprechendere Gebehrde sehn, als die der Nymphe Lampetie, wie sie dem Sonnengott den Verlust seiner geliebten Heerden ankündigt. Sie schwebt hinzu, ihr Gesicht ist gegen ihn in die Höhe gerichtet, die starren Arme hinter dasselbe zurückgeschlagen, während der Gott, bestürzt nach ihr umgewandt, die Zügel der Pferde plötzlich bis gegen die Schultern anzieht. Jn den Szenen zwischen Ulysses und dem göttlichen Sauhirten, und dann der Penelope entspricht der milde, erfreulich rührende Ausdruck der stillen Anhänglichkeit an häusliche Verbindungen, welche die ganze Odyssee beseelt; besonders ist Penelope, die zu dem lange bezweifelten Gemahl herantritt und ihn, die Hand um seinen Kopf gebogen, zum erstenmal umarmt, ein anmuthig sittiges Weib.

und vielleicht ist das am meisten zu tadeln, daß der Zeichner sich uͤberhaupt darauf eingelassen hat; denn auch treu nach dem Homer genommen, gaͤbe es immer nur einen abscheulichen Meerdrachen. Jn andern aͤhnlichen Faͤllen hat er sich vorsichtiger herausgezogen: der hundertarmige Briareus, von der Thetis zu Jupiters Schutz heraufgerufen, der, vollstaͤndig vorgestellt, wie eine Jndische Gottheit aussehen wuͤrde, kommt hier erst mit dem riesenhaften Kopfe aus der Erde hervor und greift vorlaͤufig nur noch mit sechs Haͤnden an die Kluft, die er sich oͤffnet. Die andringenden Haufen der Schatten, welche den Ulysses fuͤrchten lassen, die Gorgo werde erscheinen, sind zwar graͤßliche Larven, aber von mannichfaltigem und furchtbarem Ausdruck. — Man kann keine sprechendere Gebehrde sehn, als die der Nymphe Lampetie, wie sie dem Sonnengott den Verlust seiner geliebten Heerden ankuͤndigt. Sie schwebt hinzu, ihr Gesicht ist gegen ihn in die Hoͤhe gerichtet, die starren Arme hinter dasselbe zuruͤckgeschlagen, waͤhrend der Gott, bestuͤrzt nach ihr umgewandt, die Zuͤgel der Pferde ploͤtzlich bis gegen die Schultern anzieht. Jn den Szenen zwischen Ulysses und dem goͤttlichen Sauhirten, und dann der Penelope entspricht der milde, erfreulich ruͤhrende Ausdruck der stillen Anhaͤnglichkeit an haͤusliche Verbindungen, welche die ganze Odyssee beseelt; besonders ist Penelope, die zu dem lange bezweifelten Gemahl herantritt und ihn, die Hand um seinen Kopf gebogen, zum erstenmal umarmt, ein anmuthig sittiges Weib.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0250" n="240"/>
und vielleicht ist das am meisten zu tadeln, daß der Zeichner sich u&#x0364;berhaupt darauf eingelassen hat; denn auch treu nach dem Homer genommen, ga&#x0364;be es immer nur einen abscheulichen Meerdrachen. Jn andern a&#x0364;hnlichen Fa&#x0364;llen hat er sich vorsichtiger herausgezogen: der hundertarmige Briareus, von der Thetis zu Jupiters Schutz heraufgerufen, der, vollsta&#x0364;ndig vorgestellt, wie eine Jndische Gottheit aussehen wu&#x0364;rde, kommt hier erst mit dem riesenhaften Kopfe aus der Erde hervor und greift vorla&#x0364;ufig nur noch mit sechs Ha&#x0364;nden an die Kluft, die er sich o&#x0364;ffnet. Die andringenden Haufen der Schatten, welche den Ulysses fu&#x0364;rchten lassen, die Gorgo werde erscheinen, sind zwar gra&#x0364;ßliche Larven, aber von mannichfaltigem und furchtbarem Ausdruck. &#x2014; Man kann keine sprechendere Gebehrde sehn, als die der Nymphe Lampetie, wie sie dem Sonnengott den Verlust seiner geliebten Heerden anku&#x0364;ndigt. Sie schwebt hinzu, ihr Gesicht ist gegen ihn in die Ho&#x0364;he gerichtet, die starren Arme hinter dasselbe zuru&#x0364;ckgeschlagen, wa&#x0364;hrend der Gott, bestu&#x0364;rzt nach ihr umgewandt, die Zu&#x0364;gel der Pferde plo&#x0364;tzlich bis gegen die Schultern anzieht. Jn den Szenen zwischen Ulysses und dem go&#x0364;ttlichen Sauhirten, und dann der Penelope entspricht der milde, erfreulich ru&#x0364;hrende Ausdruck der stillen Anha&#x0364;nglichkeit an ha&#x0364;usliche Verbindungen, welche die ganze Odyssee beseelt; besonders ist Penelope, die zu dem lange bezweifelten Gemahl herantritt und ihn, die Hand um seinen Kopf gebogen, zum erstenmal umarmt, ein anmuthig sittiges Weib.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[240/0250] und vielleicht ist das am meisten zu tadeln, daß der Zeichner sich uͤberhaupt darauf eingelassen hat; denn auch treu nach dem Homer genommen, gaͤbe es immer nur einen abscheulichen Meerdrachen. Jn andern aͤhnlichen Faͤllen hat er sich vorsichtiger herausgezogen: der hundertarmige Briareus, von der Thetis zu Jupiters Schutz heraufgerufen, der, vollstaͤndig vorgestellt, wie eine Jndische Gottheit aussehen wuͤrde, kommt hier erst mit dem riesenhaften Kopfe aus der Erde hervor und greift vorlaͤufig nur noch mit sechs Haͤnden an die Kluft, die er sich oͤffnet. Die andringenden Haufen der Schatten, welche den Ulysses fuͤrchten lassen, die Gorgo werde erscheinen, sind zwar graͤßliche Larven, aber von mannichfaltigem und furchtbarem Ausdruck. — Man kann keine sprechendere Gebehrde sehn, als die der Nymphe Lampetie, wie sie dem Sonnengott den Verlust seiner geliebten Heerden ankuͤndigt. Sie schwebt hinzu, ihr Gesicht ist gegen ihn in die Hoͤhe gerichtet, die starren Arme hinter dasselbe zuruͤckgeschlagen, waͤhrend der Gott, bestuͤrzt nach ihr umgewandt, die Zuͤgel der Pferde ploͤtzlich bis gegen die Schultern anzieht. Jn den Szenen zwischen Ulysses und dem goͤttlichen Sauhirten, und dann der Penelope entspricht der milde, erfreulich ruͤhrende Ausdruck der stillen Anhaͤnglichkeit an haͤusliche Verbindungen, welche die ganze Odyssee beseelt; besonders ist Penelope, die zu dem lange bezweifelten Gemahl herantritt und ihn, die Hand um seinen Kopf gebogen, zum erstenmal umarmt, ein anmuthig sittiges Weib.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799/250
Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799/250>, abgerufen am 24.11.2024.