Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite

Zwar hatte schon Haller die Alpen in einer Art von Strophen geschildert, aber diese waren bey ihrem großen Umfange mehr auf das rhetorisch Didaktische und Sentenziöse eingerichtet. Die fortgehenden Versarten begünstigten bey Thompson und Kleist die ursprüngliche Formlosigkeit der Gattung, und trieben sie in zufällig durch Zeit und Ort an einander gereihten Naturerscheinungen herum. Die engere metrische Begränzung ladet von selbst dazu ein, ein landschaftliches Gemählde zu isoliren und musikalische Einheit hineinzubringen. Hierin hat ein philosophischer Beurtheiler die Praxis des Dichters mit seiner Theorie von der Möglichkeit der ganzen Gattung übereinstimmend zu finden geglaubt: aber es könnte leicht ein tieferes Nachdenken bey der Betrachtung als bey der Hervorbringung aufgewandt worden seyn. Wenigstens verräth es keine bis zur Klarheit gediehene Absicht des Dichters, wenn er die Sylbenmaße so willkührlich und unpassend wählt, z. B. eine Alpenreise in dreifüßigen Jamben beschreibt. Jn andern Stücken ist die Bilderreihe gar nicht hinlänglich lyrisirt, um zu dem Gebrauch selbst einer leichten Liederstrophe zu berechtigen. Das Gedicht auf den Genfersee, das nur in einer ähnlichen Epoche des korrekt sentimentalen Geschmacks eben so berühmt werden konnte als Gray's Elegie auf einem Kirchhofe, ist durchaus kein Ganzes, und nachdem beträchtliche Stücke vorn und hinten dazu gekommen, und in die Mitte hineingeschoben sind, noch weniger als anfangs. Wie passen, um nur eins anzuführen, die Erinnerungen an Rousseau's Heloise

Zwar hatte schon Haller die Alpen in einer Art von Strophen geschildert, aber diese waren bey ihrem großen Umfange mehr auf das rhetorisch Didaktische und Sentenzioͤse eingerichtet. Die fortgehenden Versarten beguͤnstigten bey Thompson und Kleist die urspruͤngliche Formlosigkeit der Gattung, und trieben sie in zufaͤllig durch Zeit und Ort an einander gereihten Naturerscheinungen herum. Die engere metrische Begraͤnzung ladet von selbst dazu ein, ein landschaftliches Gemaͤhlde zu isoliren und musikalische Einheit hineinzubringen. Hierin hat ein philosophischer Beurtheiler die Praxis des Dichters mit seiner Theorie von der Moͤglichkeit der ganzen Gattung uͤbereinstimmend zu finden geglaubt: aber es koͤnnte leicht ein tieferes Nachdenken bey der Betrachtung als bey der Hervorbringung aufgewandt worden seyn. Wenigstens verraͤth es keine bis zur Klarheit gediehene Absicht des Dichters, wenn er die Sylbenmaße so willkuͤhrlich und unpassend waͤhlt, z. B. eine Alpenreise in dreifuͤßigen Jamben beschreibt. Jn andern Stuͤcken ist die Bilderreihe gar nicht hinlaͤnglich lyrisirt, um zu dem Gebrauch selbst einer leichten Liederstrophe zu berechtigen. Das Gedicht auf den Genfersee, das nur in einer aͤhnlichen Epoche des korrekt sentimentalen Geschmacks eben so beruͤhmt werden konnte als Gray's Elegie auf einem Kirchhofe, ist durchaus kein Ganzes, und nachdem betraͤchtliche Stuͤcke vorn und hinten dazu gekommen, und in die Mitte hineingeschoben sind, noch weniger als anfangs. Wie passen, um nur eins anzufuͤhren, die Erinnerungen an Rousseau's Heloise

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0159" n="151"/>
Zwar hatte schon Haller die Alpen in einer Art von Strophen geschildert, aber diese waren bey ihrem großen Umfange mehr auf das rhetorisch Didaktische und Sentenzio&#x0364;se eingerichtet. Die fortgehenden Versarten begu&#x0364;nstigten bey Thompson und Kleist die urspru&#x0364;ngliche Formlosigkeit der Gattung, und trieben sie in zufa&#x0364;llig durch Zeit und Ort an einander gereihten Naturerscheinungen herum. Die engere metrische Begra&#x0364;nzung ladet von selbst dazu ein, ein landschaftliches Gema&#x0364;hlde zu isoliren und musikalische Einheit hineinzubringen. Hierin hat ein philosophischer Beurtheiler die Praxis des Dichters mit seiner Theorie von der Mo&#x0364;glichkeit der ganzen Gattung u&#x0364;bereinstimmend zu finden geglaubt: aber es ko&#x0364;nnte leicht ein tieferes Nachdenken bey der Betrachtung als bey der Hervorbringung aufgewandt worden seyn. Wenigstens verra&#x0364;th es keine bis zur Klarheit gediehene Absicht des Dichters, wenn er die Sylbenmaße so willku&#x0364;hrlich und unpassend wa&#x0364;hlt, z. B. eine Alpenreise in dreifu&#x0364;ßigen Jamben beschreibt. Jn andern Stu&#x0364;cken ist die Bilderreihe gar nicht hinla&#x0364;nglich lyrisirt, um zu dem Gebrauch selbst einer leichten Liederstrophe zu berechtigen. Das Gedicht auf den Genfersee, das nur in einer a&#x0364;hnlichen Epoche des korrekt sentimentalen Geschmacks eben so beru&#x0364;hmt werden konnte als Gray's Elegie auf einem Kirchhofe, ist durchaus kein Ganzes, und nachdem betra&#x0364;chtliche Stu&#x0364;cke vorn und hinten dazu gekommen, und in die Mitte hineingeschoben sind, noch weniger als anfangs. Wie passen, um nur eins anzufu&#x0364;hren, die Erinnerungen an Rousseau's Heloise
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[151/0159] Zwar hatte schon Haller die Alpen in einer Art von Strophen geschildert, aber diese waren bey ihrem großen Umfange mehr auf das rhetorisch Didaktische und Sentenzioͤse eingerichtet. Die fortgehenden Versarten beguͤnstigten bey Thompson und Kleist die urspruͤngliche Formlosigkeit der Gattung, und trieben sie in zufaͤllig durch Zeit und Ort an einander gereihten Naturerscheinungen herum. Die engere metrische Begraͤnzung ladet von selbst dazu ein, ein landschaftliches Gemaͤhlde zu isoliren und musikalische Einheit hineinzubringen. Hierin hat ein philosophischer Beurtheiler die Praxis des Dichters mit seiner Theorie von der Moͤglichkeit der ganzen Gattung uͤbereinstimmend zu finden geglaubt: aber es koͤnnte leicht ein tieferes Nachdenken bey der Betrachtung als bey der Hervorbringung aufgewandt worden seyn. Wenigstens verraͤth es keine bis zur Klarheit gediehene Absicht des Dichters, wenn er die Sylbenmaße so willkuͤhrlich und unpassend waͤhlt, z. B. eine Alpenreise in dreifuͤßigen Jamben beschreibt. Jn andern Stuͤcken ist die Bilderreihe gar nicht hinlaͤnglich lyrisirt, um zu dem Gebrauch selbst einer leichten Liederstrophe zu berechtigen. Das Gedicht auf den Genfersee, das nur in einer aͤhnlichen Epoche des korrekt sentimentalen Geschmacks eben so beruͤhmt werden konnte als Gray's Elegie auf einem Kirchhofe, ist durchaus kein Ganzes, und nachdem betraͤchtliche Stuͤcke vorn und hinten dazu gekommen, und in die Mitte hineingeschoben sind, noch weniger als anfangs. Wie passen, um nur eins anzufuͤhren, die Erinnerungen an Rousseau's Heloise

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/159
Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/159>, abgerufen am 14.05.2024.