Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite

wollen. Aber lehren soll ihn die hohe Wissenschaft ächter Kritik, wie er sich selbst bilden muß in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbständige Gestalt der Poesie in ihrer classischen Kraft und Fülle zu fassen, daß die Blüthe und der Kern fremder Geister Nahrung und Saame werde für seine eigne Fantasie.

Nie wird der Geist, welcher die Orgien der wahren Muse kennt, auf dieser Bahn bis ans Ende dringen, oder wähnen, daß er es erreicht: denn nie kann er eine Sehnsucht stillen, die aus der Fülle der Befriedigungen selbst sich ewig von neuem erzeugt. Unermeßlich und unerschöpflich ist die Welt der Poesie wie der Reichthum der belebenden Natur an Gewächsen, Thieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe. Selbst die künstlichen Werke oder natürlichen Erzeugnisse, welche die Form und den Namen von Gedichten tragen, wird nicht leicht auch der umfassendste alle umfassen. Und was sind sie gegen die formlose und bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde lächelt, in der Blüthe der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen glüht? -- Diese aber ist die erste, ursprüngliche, ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben würde. Ja wir alle, die wir Menschen sind, haben immer und ewig keinen andern Gegenstand und keinen andern Stoff aller Thätigkeit und aller Freude, als das eine Gedicht der Gottheit, dessen Theil und Blüthe auch wir sind -- die Erde. Die Musik des unendlichen Spielwerks zu vernehmen, die Schönheit des

wollen. Aber lehren soll ihn die hohe Wissenschaft aͤchter Kritik, wie er sich selbst bilden muß in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbstaͤndige Gestalt der Poesie in ihrer classischen Kraft und Fuͤlle zu fassen, daß die Bluͤthe und der Kern fremder Geister Nahrung und Saame werde fuͤr seine eigne Fantasie.

Nie wird der Geist, welcher die Orgien der wahren Muse kennt, auf dieser Bahn bis ans Ende dringen, oder waͤhnen, daß er es erreicht: denn nie kann er eine Sehnsucht stillen, die aus der Fuͤlle der Befriedigungen selbst sich ewig von neuem erzeugt. Unermeßlich und unerschoͤpflich ist die Welt der Poesie wie der Reichthum der belebenden Natur an Gewaͤchsen, Thieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe. Selbst die kuͤnstlichen Werke oder natuͤrlichen Erzeugnisse, welche die Form und den Namen von Gedichten tragen, wird nicht leicht auch der umfassendste alle umfassen. Und was sind sie gegen die formlose und bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde laͤchelt, in der Bluͤthe der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen gluͤht? — Diese aber ist die erste, urspruͤngliche, ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben wuͤrde. Ja wir alle, die wir Menschen sind, haben immer und ewig keinen andern Gegenstand und keinen andern Stoff aller Thaͤtigkeit und aller Freude, als das eine Gedicht der Gottheit, dessen Theil und Bluͤthe auch wir sind — die Erde. Die Musik des unendlichen Spielwerks zu vernehmen, die Schoͤnheit des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0067" n="59"/>
wollen. Aber lehren soll ihn die hohe Wissenschaft a&#x0364;chter Kritik, wie er sich selbst bilden muß in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbsta&#x0364;ndige Gestalt der Poesie in ihrer classischen Kraft und Fu&#x0364;lle zu fassen, daß die Blu&#x0364;the und der Kern fremder Geister Nahrung und Saame werde fu&#x0364;r seine eigne Fantasie.</p><lb/>
          <p>Nie wird der Geist, welcher die Orgien der wahren Muse kennt, auf dieser Bahn bis ans Ende dringen, oder wa&#x0364;hnen, daß er es erreicht: denn nie kann er eine Sehnsucht stillen, die aus der Fu&#x0364;lle der Befriedigungen selbst sich ewig von neuem erzeugt. Unermeßlich und unerscho&#x0364;pflich ist die Welt der Poesie wie der Reichthum der belebenden Natur an Gewa&#x0364;chsen, Thieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe. Selbst die ku&#x0364;nstlichen Werke oder natu&#x0364;rlichen Erzeugnisse, welche die Form und den Namen von Gedichten tragen, wird nicht leicht auch der umfassendste alle umfassen. Und was sind sie gegen die formlose und bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde la&#x0364;chelt, in der Blu&#x0364;the der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen glu&#x0364;ht? &#x2014; Diese aber ist die erste, urspru&#x0364;ngliche, ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben wu&#x0364;rde. Ja wir alle, die wir Menschen sind, haben immer und ewig keinen andern Gegenstand und keinen andern Stoff aller Tha&#x0364;tigkeit und aller Freude, als das eine Gedicht der Gottheit, dessen Theil und Blu&#x0364;the auch wir sind &#x2014; die Erde. Die Musik des unendlichen Spielwerks zu vernehmen, die Scho&#x0364;nheit des
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0067] wollen. Aber lehren soll ihn die hohe Wissenschaft aͤchter Kritik, wie er sich selbst bilden muß in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbstaͤndige Gestalt der Poesie in ihrer classischen Kraft und Fuͤlle zu fassen, daß die Bluͤthe und der Kern fremder Geister Nahrung und Saame werde fuͤr seine eigne Fantasie. Nie wird der Geist, welcher die Orgien der wahren Muse kennt, auf dieser Bahn bis ans Ende dringen, oder waͤhnen, daß er es erreicht: denn nie kann er eine Sehnsucht stillen, die aus der Fuͤlle der Befriedigungen selbst sich ewig von neuem erzeugt. Unermeßlich und unerschoͤpflich ist die Welt der Poesie wie der Reichthum der belebenden Natur an Gewaͤchsen, Thieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe. Selbst die kuͤnstlichen Werke oder natuͤrlichen Erzeugnisse, welche die Form und den Namen von Gedichten tragen, wird nicht leicht auch der umfassendste alle umfassen. Und was sind sie gegen die formlose und bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde laͤchelt, in der Bluͤthe der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen gluͤht? — Diese aber ist die erste, urspruͤngliche, ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben wuͤrde. Ja wir alle, die wir Menschen sind, haben immer und ewig keinen andern Gegenstand und keinen andern Stoff aller Thaͤtigkeit und aller Freude, als das eine Gedicht der Gottheit, dessen Theil und Bluͤthe auch wir sind — die Erde. Die Musik des unendlichen Spielwerks zu vernehmen, die Schoͤnheit des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/67
Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/67>, abgerufen am 24.11.2024.