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Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863.

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ansichten zu stehen, die man heute zu Tage mehr oder
minder klar bewust und ausgesprochen bei den meisten
naturwissenschaftlichen Schriftstellern findet. Ich will das
etwas weiter ausführen.

Die Richtung des Denkens der Neuzeit läuft unver-
kennbar auf Monismus hinaus. Der Dualismus, fasse man
ihn nun als Gegensatz von Geist und Natur, Inhalt und
Form, Wesen und Erscheinung, oder wie man ihn sonst
bezeichnen mag, ist für die naturwissenschaftlichen Anschau-
ung unserer Tage ein vollkommen überwundener Stand-
punkt. Für diese gibt es keine Materie ohne Geist (ohne
die sie bestimmende Nothwendigkeit), aber eben so wenig
auch Geist ohne Materie. Oder vielmehr es gibt weder
Geist noch Materie im gewöhnlichen Sinne, sondern nur
eines, das beides zugleich ist1). Ein philosophisches System
des Monismus fehlt zur Zeit noch, doch sieht man in der
Entwickelungsgeschichte der neueren Philosophie deutlich
das Ringen nach einem solchen. Es ist übrigens nicht
ausser Acht zu lassen, dass gerade in Folge der jetzigen
Art zu denken und die Dinge zu betrachten der Gang der
wissenschaftlichen Thätigkeit ein anderer geworden ist, als
er füher war. Während man einst zuerst das System fer-
tig machte und dann das Object darauf hin bearbeitete es
ins System zu bringen, verfährt man jetzt umgekehrt. Vor
allem versenkt man sich in das genaueste Einzelstudium des
Objectes, ohne an einem systematischen Aufbau des Ganzen
zu denken. Man erträgt mit gröster Gemüthsruhe den

1) Diese Beobachtung beruhende Ansicht des Materialismus zu
beschuldigen, ist eben so verkehrt, als wollte man sie des Spiritualis-
mus zeihen.

ansichten zu stehen, die man heute zu Tage mehr oder
minder klar bewust und ausgesprochen bei den meisten
naturwissenschaftlichen Schriftstellern findet. Ich will das
etwas weiter ausführen.

Die Richtung des Denkens der Neuzeit läuft unver-
kennbar auf Monismus hinaus. Der Dualismus, fasse man
ihn nun als Gegensatz von Geist und Natur, Inhalt und
Form, Wesen und Erscheinung, oder wie man ihn sonst
bezeichnen mag, ist für die naturwissenschaftlichen Anschau-
ung unserer Tage ein vollkommen überwundener Stand-
punkt. Für diese gibt es keine Materie ohne Geist (ohne
die sie bestimmende Nothwendigkeit), aber eben so wenig
auch Geist ohne Materie. Oder vielmehr es gibt weder
Geist noch Materie im gewöhnlichen Sinne, sondern nur
eines, das beides zugleich ist1). Ein philosophisches System
des Monismus fehlt zur Zeit noch, doch sieht man in der
Entwickelungsgeschichte der neueren Philosophie deutlich
das Ringen nach einem solchen. Es ist übrigens nicht
ausser Acht zu lassen, dass gerade in Folge der jetzigen
Art zu denken und die Dinge zu betrachten der Gang der
wissenschaftlichen Thätigkeit ein anderer geworden ist, als
er füher war. Während man einst zuerst das System fer-
tig machte und dann das Object darauf hin bearbeitete es
ins System zu bringen, verfährt man jetzt umgekehrt. Vor
allem versenkt man sich in das genaueste Einzelstudium des
Objectes, ohne an einem systematischen Aufbau des Ganzen
zu denken. Man erträgt mit gröster Gemüthsruhe den

1) Diese Beobachtung beruhende Ansicht des Materialismus zu
beschuldigen, ist eben so verkehrt, als wollte man sie des Spiritualis-
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[8/0008] ansichten zu stehen, die man heute zu Tage mehr oder minder klar bewust und ausgesprochen bei den meisten naturwissenschaftlichen Schriftstellern findet. Ich will das etwas weiter ausführen. Die Richtung des Denkens der Neuzeit läuft unver- kennbar auf Monismus hinaus. Der Dualismus, fasse man ihn nun als Gegensatz von Geist und Natur, Inhalt und Form, Wesen und Erscheinung, oder wie man ihn sonst bezeichnen mag, ist für die naturwissenschaftlichen Anschau- ung unserer Tage ein vollkommen überwundener Stand- punkt. Für diese gibt es keine Materie ohne Geist (ohne die sie bestimmende Nothwendigkeit), aber eben so wenig auch Geist ohne Materie. Oder vielmehr es gibt weder Geist noch Materie im gewöhnlichen Sinne, sondern nur eines, das beides zugleich ist 1). Ein philosophisches System des Monismus fehlt zur Zeit noch, doch sieht man in der Entwickelungsgeschichte der neueren Philosophie deutlich das Ringen nach einem solchen. Es ist übrigens nicht ausser Acht zu lassen, dass gerade in Folge der jetzigen Art zu denken und die Dinge zu betrachten der Gang der wissenschaftlichen Thätigkeit ein anderer geworden ist, als er füher war. Während man einst zuerst das System fer- tig machte und dann das Object darauf hin bearbeitete es ins System zu bringen, verfährt man jetzt umgekehrt. Vor allem versenkt man sich in das genaueste Einzelstudium des Objectes, ohne an einem systematischen Aufbau des Ganzen zu denken. Man erträgt mit gröster Gemüthsruhe den 1) Diese Beobachtung beruhende Ansicht des Materialismus zu beschuldigen, ist eben so verkehrt, als wollte man sie des Spiritualis- mus zeihen.

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Zitationshilfe: Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleicher_darwin_1863/8>, abgerufen am 03.12.2024.