ihrer Gestaltenbildung als wesentliche aussprechen, welche Grund- lagen sie uns also zur Bildung unserer Systeme anbietet.
In dieser Beziehung stehen wir nun auf sehr verschiedenen Stu- fen der Vollendung unserer Wissenschaft bei den einzelnen Classen der Naturkörper, überall aber vom Ziele noch weit entfernt. Dieses Ziel nämlich wäre, alle Gestalten aus den gesetzmäßigen Wirkungen der Kräfte in der Natur erklären zu können, was aber zur Zeit noch in keinem einzigen Falle uns möglich ist. Die vorbereitenden Stufen, um zu diesem Ziel zu gelangen, bestehen aber erstens in der genauen Kenntniß und Anordnung der verschiedenen Gestalten nach ihren in- nern Verwandtschaften und zweitens in der allmäligen vollständigen Auffindung und Sammlung der äußern Bedingungen, unter deren Einfluß sich die einzelnen Gestalten bilden. Für die letzte Aufgabe haben wir hin und wieder einzelne wenige Bruchstücke gesammelt, für die erste Hälfte ist uns die Anordnung der Krystallgestalten ziemlich vollständig gelungen; dagegen haben wir für Pflanzen und Thier- welt nur von sehr verschiedenen Standpuncten aus einzelne Perspec- tive und Uebersichten gewonnen, die im Ganzen noch wenig innern Zusammenhang darbieten.
Das Störende ist im letzten Falle nämlich in gewisser Beziehung gerade das, was wir das Lebendige nennen; nur wird selten deutlich erkannt worin eigentlich das Characteristische dieses Lebens liegt. Auch der Krystall springt nicht auf einmal, eine fertige Minerva, aus dem Haupte Jupiters hervor, der Stoff, aus dem er sich bildet, durchläuft eine stetige Reihe von Veränderungen, deren Endresultat die vollendete Krystallgestalt ist. Auch der Krystall hat eine individuelle Geschichte, eine Lebensgeschichte, aber nur eine Geschichte seines Werdens, seines Entstehens. Ist er geworden, so ist sein Leben zu Ende, sein Be- stehen schließt jede Veränderung aus; der Augenblick seiner Geburt ist das Aufhören seines Lebens, er ist todt von dem Moment an, in welchem er sein vollendetes Daseyn beginnt. Den geradesten Gegen- satz dazu bilden Pflanzen und Thiere und eben hierin liegt das Ge- meinschaftliche, was uns bewegt sie unter einem Begriff als organische,
ihrer Geſtaltenbildung als weſentliche ausſprechen, welche Grund- lagen ſie uns alſo zur Bildung unſerer Syſteme anbietet.
In dieſer Beziehung ſtehen wir nun auf ſehr verſchiedenen Stu- fen der Vollendung unſerer Wiſſenſchaft bei den einzelnen Claſſen der Naturkörper, überall aber vom Ziele noch weit entfernt. Dieſes Ziel nämlich wäre, alle Geſtalten aus den geſetzmäßigen Wirkungen der Kräfte in der Natur erklären zu können, was aber zur Zeit noch in keinem einzigen Falle uns möglich iſt. Die vorbereitenden Stufen, um zu dieſem Ziel zu gelangen, beſtehen aber erſtens in der genauen Kenntniß und Anordnung der verſchiedenen Geſtalten nach ihren in- nern Verwandtſchaften und zweitens in der allmäligen vollſtändigen Auffindung und Sammlung der äußern Bedingungen, unter deren Einfluß ſich die einzelnen Geſtalten bilden. Für die letzte Aufgabe haben wir hin und wieder einzelne wenige Bruchſtücke geſammelt, für die erſte Hälfte iſt uns die Anordnung der Kryſtallgeſtalten ziemlich vollſtändig gelungen; dagegen haben wir für Pflanzen und Thier- welt nur von ſehr verſchiedenen Standpuncten aus einzelne Perſpec- tive und Ueberſichten gewonnen, die im Ganzen noch wenig innern Zuſammenhang darbieten.
Das Störende iſt im letzten Falle nämlich in gewiſſer Beziehung gerade das, was wir das Lebendige nennen; nur wird ſelten deutlich erkannt worin eigentlich das Characteriſtiſche dieſes Lebens liegt. Auch der Kryſtall ſpringt nicht auf einmal, eine fertige Minerva, aus dem Haupte Jupiters hervor, der Stoff, aus dem er ſich bildet, durchläuft eine ſtetige Reihe von Veränderungen, deren Endreſultat die vollendete Kryſtallgeſtalt iſt. Auch der Kryſtall hat eine individuelle Geſchichte, eine Lebensgeſchichte, aber nur eine Geſchichte ſeines Werdens, ſeines Entſtehens. Iſt er geworden, ſo iſt ſein Leben zu Ende, ſein Be- ſtehen ſchließt jede Veränderung aus; der Augenblick ſeiner Geburt iſt das Aufhören ſeines Lebens, er iſt todt von dem Moment an, in welchem er ſein vollendetes Daſeyn beginnt. Den geradeſten Gegen- ſatz dazu bilden Pflanzen und Thiere und eben hierin liegt das Ge- meinſchaftliche, was uns bewegt ſie unter einem Begriff als organiſche,
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ihrer Geſtaltenbildung als weſentliche ausſprechen, welche Grund-
lagen ſie uns alſo zur Bildung unſerer Syſteme anbietet.
In dieſer Beziehung ſtehen wir nun auf ſehr verſchiedenen Stu-
fen der Vollendung unſerer Wiſſenſchaft bei den einzelnen Claſſen der
Naturkörper, überall aber vom Ziele noch weit entfernt. Dieſes Ziel
nämlich wäre, alle Geſtalten aus den geſetzmäßigen Wirkungen der
Kräfte in der Natur erklären zu können, was aber zur Zeit noch in
keinem einzigen Falle uns möglich iſt. Die vorbereitenden Stufen,
um zu dieſem Ziel zu gelangen, beſtehen aber erſtens in der genauen
Kenntniß und Anordnung der verſchiedenen Geſtalten nach ihren in-
nern Verwandtſchaften und zweitens in der allmäligen vollſtändigen
Auffindung und Sammlung der äußern Bedingungen, unter deren
Einfluß ſich die einzelnen Geſtalten bilden. Für die letzte Aufgabe
haben wir hin und wieder einzelne wenige Bruchſtücke geſammelt, für
die erſte Hälfte iſt uns die Anordnung der Kryſtallgeſtalten ziemlich
vollſtändig gelungen; dagegen haben wir für Pflanzen und Thier-
welt nur von ſehr verſchiedenen Standpuncten aus einzelne Perſpec-
tive und Ueberſichten gewonnen, die im Ganzen noch wenig innern
Zuſammenhang darbieten.
Das Störende iſt im letzten Falle nämlich in gewiſſer Beziehung
gerade das, was wir das Lebendige nennen; nur wird ſelten deutlich
erkannt worin eigentlich das Characteriſtiſche dieſes Lebens liegt. Auch
der Kryſtall ſpringt nicht auf einmal, eine fertige Minerva, aus dem
Haupte Jupiters hervor, der Stoff, aus dem er ſich bildet, durchläuft
eine ſtetige Reihe von Veränderungen, deren Endreſultat die vollendete
Kryſtallgeſtalt iſt. Auch der Kryſtall hat eine individuelle Geſchichte,
eine Lebensgeſchichte, aber nur eine Geſchichte ſeines Werdens, ſeines
Entſtehens. Iſt er geworden, ſo iſt ſein Leben zu Ende, ſein Be-
ſtehen ſchließt jede Veränderung aus; der Augenblick ſeiner Geburt
iſt das Aufhören ſeines Lebens, er iſt todt von dem Moment an, in
welchem er ſein vollendetes Daſeyn beginnt. Den geradeſten Gegen-
ſatz dazu bilden Pflanzen und Thiere und eben hierin liegt das Ge-
meinſchaftliche, was uns bewegt ſie unter einem Begriff als organiſche,
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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/102>, abgerufen am 16.02.2025.
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