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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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oder lebendige Wesen zusammenzufassen. Ich will hier aber meine
folgenden Erörterungen auf die Pflanzenwelt beschränken, um nicht
zu weitläufig zu werden.

Wir vertrauen das Gerstenkorn im Frühling der ernährenden
Erde, der Keim fängt an sich zu regen, sprengt seine Hüllen, die der
Verwesung anheimfallen. Ein Blatt nach dem andern tritt hervor
und entwickelt sich, dann erscheinen die Blüthen in dichtgedrängter
Aehre; durch wunderbare Wechselwirkungen hervorgerufen, entsteht
in jeder der Keim eines neuen Lebens und während dieser sich mit
seinen Hüllen zum Korne ausbildet, gehen von Unten nach Oben
stetige Veränderungen an der Pflanze vor sich; ein Blatt nach dem
andern stirbt ab und vertrocknet, zuletzt steht der dürre, nackte Stroh-
halm da; gebeugt unter der Last der goldenen Gabe der Ceres bricht
er zusammen und verwest im Boden, während leis und heimlich vom
wärmenden Schnee gedeckt sich in den verstreuten Körnern eine neue
Entwicklungsperiode vorbereitet, die im nächsten Frühling beginnen
soll und so geht es ins Unendliche fort. Hier ist nichts Festes, nichts
Bestehendes, ein endloses Werden und Entwickeln, ein fortwährendes
Absterben und Vernichten neben einander und in einander greifend,
so ist die Pflanze. Sie hat eine Geschichte nicht nur ihrer Bildung,
sondern auch ihres Daseyns, nicht nur ihres Entstehens, sondern
auch ihres Bestehens. Wir sprechen von Pflanzen; wo sind sie?
Wann sind sie fertig, vollendet, daß ich sie aus diesem beständigen
Wechsel des Stoffes und der Form herausreißen und als ein Gewor-
denes betrachten dürfte; wir sprechen von Gestalten und Formen; wo
sollen wir sie erfassen, die proteusartig jeden Augenblick wieder unter
unsern Händen verschwinden und in andere übergehen? -- Wie in
Döblers dissolving views verschwindet ganz unmerklich das eine Bild
vor unsern Augen und ein anderes tritt an seine Stelle, ohne daß
wir im Stande wären den Augenblick anzugeben, wo jenes aufgehört
hätte zu seyn, dieses begonnen hätte in die Erscheinung zu treten. In
jedem gegebenen Momente ist die Pflanze die Ruine der Vergangen-
heit und doch zugleich der entwicklungsfähige und sich wirklich ent-

oder lebendige Weſen zuſammenzufaſſen. Ich will hier aber meine
folgenden Erörterungen auf die Pflanzenwelt beſchränken, um nicht
zu weitläufig zu werden.

Wir vertrauen das Gerſtenkorn im Frühling der ernährenden
Erde, der Keim fängt an ſich zu regen, ſprengt ſeine Hüllen, die der
Verweſung anheimfallen. Ein Blatt nach dem andern tritt hervor
und entwickelt ſich, dann erſcheinen die Blüthen in dichtgedrängter
Aehre; durch wunderbare Wechſelwirkungen hervorgerufen, entſteht
in jeder der Keim eines neuen Lebens und während dieſer ſich mit
ſeinen Hüllen zum Korne ausbildet, gehen von Unten nach Oben
ſtetige Veränderungen an der Pflanze vor ſich; ein Blatt nach dem
andern ſtirbt ab und vertrocknet, zuletzt ſteht der dürre, nackte Stroh-
halm da; gebeugt unter der Laſt der goldenen Gabe der Ceres bricht
er zuſammen und verweſt im Boden, während leis und heimlich vom
wärmenden Schnee gedeckt ſich in den verſtreuten Körnern eine neue
Entwicklungsperiode vorbereitet, die im nächſten Frühling beginnen
ſoll und ſo geht es ins Unendliche fort. Hier iſt nichts Feſtes, nichts
Beſtehendes, ein endloſes Werden und Entwickeln, ein fortwährendes
Abſterben und Vernichten neben einander und in einander greifend,
ſo iſt die Pflanze. Sie hat eine Geſchichte nicht nur ihrer Bildung,
ſondern auch ihres Daſeyns, nicht nur ihres Entſtehens, ſondern
auch ihres Beſtehens. Wir ſprechen von Pflanzen; wo ſind ſie?
Wann ſind ſie fertig, vollendet, daß ich ſie aus dieſem beſtändigen
Wechſel des Stoffes und der Form herausreißen und als ein Gewor-
denes betrachten dürfte; wir ſprechen von Geſtalten und Formen; wo
ſollen wir ſie erfaſſen, die proteusartig jeden Augenblick wieder unter
unſern Händen verſchwinden und in andere übergehen? — Wie in
Döblers dissolving views verſchwindet ganz unmerklich das eine Bild
vor unſern Augen und ein anderes tritt an ſeine Stelle, ohne daß
wir im Stande wären den Augenblick anzugeben, wo jenes aufgehört
hätte zu ſeyn, dieſes begonnen hätte in die Erſcheinung zu treten. In
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heit und doch zugleich der entwicklungsfähige und ſich wirklich ent-

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[87/0103] oder lebendige Weſen zuſammenzufaſſen. Ich will hier aber meine folgenden Erörterungen auf die Pflanzenwelt beſchränken, um nicht zu weitläufig zu werden. Wir vertrauen das Gerſtenkorn im Frühling der ernährenden Erde, der Keim fängt an ſich zu regen, ſprengt ſeine Hüllen, die der Verweſung anheimfallen. Ein Blatt nach dem andern tritt hervor und entwickelt ſich, dann erſcheinen die Blüthen in dichtgedrängter Aehre; durch wunderbare Wechſelwirkungen hervorgerufen, entſteht in jeder der Keim eines neuen Lebens und während dieſer ſich mit ſeinen Hüllen zum Korne ausbildet, gehen von Unten nach Oben ſtetige Veränderungen an der Pflanze vor ſich; ein Blatt nach dem andern ſtirbt ab und vertrocknet, zuletzt ſteht der dürre, nackte Stroh- halm da; gebeugt unter der Laſt der goldenen Gabe der Ceres bricht er zuſammen und verweſt im Boden, während leis und heimlich vom wärmenden Schnee gedeckt ſich in den verſtreuten Körnern eine neue Entwicklungsperiode vorbereitet, die im nächſten Frühling beginnen ſoll und ſo geht es ins Unendliche fort. Hier iſt nichts Feſtes, nichts Beſtehendes, ein endloſes Werden und Entwickeln, ein fortwährendes Abſterben und Vernichten neben einander und in einander greifend, ſo iſt die Pflanze. Sie hat eine Geſchichte nicht nur ihrer Bildung, ſondern auch ihres Daſeyns, nicht nur ihres Entſtehens, ſondern auch ihres Beſtehens. Wir ſprechen von Pflanzen; wo ſind ſie? Wann ſind ſie fertig, vollendet, daß ich ſie aus dieſem beſtändigen Wechſel des Stoffes und der Form herausreißen und als ein Gewor- denes betrachten dürfte; wir ſprechen von Geſtalten und Formen; wo ſollen wir ſie erfaſſen, die proteusartig jeden Augenblick wieder unter unſern Händen verſchwinden und in andere übergehen? — Wie in Döblers dissolving views verſchwindet ganz unmerklich das eine Bild vor unſern Augen und ein anderes tritt an ſeine Stelle, ohne daß wir im Stande wären den Augenblick anzugeben, wo jenes aufgehört hätte zu ſeyn, dieſes begonnen hätte in die Erſcheinung zu treten. In jedem gegebenen Momente iſt die Pflanze die Ruine der Vergangen- heit und doch zugleich der entwicklungsfähige und ſich wirklich ent-

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/103>, abgerufen am 21.11.2024.