Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Theils ist die Individualität der neutestam. Schriftsteller erst
Produkt ihres Verhältnisses zu Christo, theils was die von Na-
tur individuelleren betrifft, Paulus und Johannes, so hat der
eine sich ganz umgewendet so daß er doch besser aus andern
neutestam. Schriftstellern zu erklären wäre als aus eigenen vor-
christlichen Schriften; der andere ist offenbar jung zu Christo
gekommen und hat erst als Christ seine Eigenthümlichkeit entfaltet.

28. Wenn die philologische Ansicht dieß verkennt,
vernichtet sie das Christenthum.

Denn wenn die Abhängigkeit von Christo Null ist gegen die
persönliche Eigenthümlichkeit und die vaterländischen Mängel
so ist Christus selbst Null.

29. Wenn die dogmatische den Kanon von der Ana-
logie des Glaubens über diese Grenzen ausdehnt vernichtet
sie die Schrift.

Denn ein locus communis aus den deutlichen Schriftstellen
kann nicht zur Erklärung der dunkeln gebraucht werden ohne
daß die Schrift aus dogmatischem Bewußtsein erklärt wird,
welches ihre Auctorität vernichtet und also gegen die Principien
der dogmatischen Ansicht selbst streitet. Denn die Aufstellung
solcher loci communes ist eine dogmatische Operation, wobei
außer der bezweifelten Eigenthümlichkeit der Person auch von
der doch unbezweifelten Besonderheit der Veranlassung abstrahirt
werden muß.

Jede Stelle ist ein Ineinander von Gemeinsamem und Be-
sonderem und kann also nicht aus dem Gemeinsamen allein
richtig erklärt werden. Das Gemeinsame ist auch nicht eher
richtig aufzustellen bis alle Stellen erklärt sind, und der schwan-
kende Gegensaz von klaren und dunklen Stellen läßt sich dar-
auf zurückführen, daß ursprünglich nur Eine klar ist 1).

1) Schleierm. meint nemlich nach der Vorlesung von 1826, wenn man
Hermeneutik u. Kritik. 6

Theils iſt die Individualitaͤt der neuteſtam. Schriftſteller erſt
Produkt ihres Verhaͤltniſſes zu Chriſto, theils was die von Na-
tur individuelleren betrifft, Paulus und Johannes, ſo hat der
eine ſich ganz umgewendet ſo daß er doch beſſer aus andern
neuteſtam. Schriftſtellern zu erklaͤren waͤre als aus eigenen vor-
chriſtlichen Schriften; der andere iſt offenbar jung zu Chriſto
gekommen und hat erſt als Chriſt ſeine Eigenthuͤmlichkeit entfaltet.

28. Wenn die philologiſche Anſicht dieß verkennt,
vernichtet ſie das Chriſtenthum.

Denn wenn die Abhaͤngigkeit von Chriſto Null iſt gegen die
perſoͤnliche Eigenthuͤmlichkeit und die vaterlaͤndiſchen Maͤngel
ſo iſt Chriſtus ſelbſt Null.

29. Wenn die dogmatiſche den Kanon von der Ana-
logie des Glaubens uͤber dieſe Grenzen ausdehnt vernichtet
ſie die Schrift.

Denn ein locus communis aus den deutlichen Schriftſtellen
kann nicht zur Erklaͤrung der dunkeln gebraucht werden ohne
daß die Schrift aus dogmatiſchem Bewußtſein erklaͤrt wird,
welches ihre Auctoritaͤt vernichtet und alſo gegen die Principien
der dogmatiſchen Anſicht ſelbſt ſtreitet. Denn die Aufſtellung
ſolcher loci communes iſt eine dogmatiſche Operation, wobei
außer der bezweifelten Eigenthuͤmlichkeit der Perſon auch von
der doch unbezweifelten Beſonderheit der Veranlaſſung abſtrahirt
werden muß.

Jede Stelle iſt ein Ineinander von Gemeinſamem und Be-
ſonderem und kann alſo nicht aus dem Gemeinſamen allein
richtig erklaͤrt werden. Das Gemeinſame iſt auch nicht eher
richtig aufzuſtellen bis alle Stellen erklaͤrt ſind, und der ſchwan-
kende Gegenſaz von klaren und dunklen Stellen laͤßt ſich dar-
auf zuruͤckfuͤhren, daß urſpruͤnglich nur Eine klar iſt 1).

1) Schleierm. meint nemlich nach der Vorleſung von 1826, wenn man
Hermeneutik u. Kritik. 6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0105" n="81"/><lb/>
            <p>Theils i&#x017F;t die Individualita&#x0364;t der neute&#x017F;tam. Schrift&#x017F;teller er&#x017F;t<lb/>
Produkt ihres Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;es zu Chri&#x017F;to, theils was die von Na-<lb/>
tur individuelleren betrifft, Paulus und Johannes, &#x017F;o hat der<lb/>
eine &#x017F;ich ganz umgewendet &#x017F;o daß er doch be&#x017F;&#x017F;er aus andern<lb/>
neute&#x017F;tam. Schrift&#x017F;tellern zu erkla&#x0364;ren wa&#x0364;re als aus eigenen vor-<lb/>
chri&#x017F;tlichen Schriften; der andere i&#x017F;t offenbar jung zu Chri&#x017F;to<lb/>
gekommen und hat er&#x017F;t als Chri&#x017F;t &#x017F;eine Eigenthu&#x0364;mlichkeit entfaltet.</p><lb/>
            <p>28. Wenn die philologi&#x017F;che An&#x017F;icht dieß verkennt,<lb/>
vernichtet &#x017F;ie das Chri&#x017F;tenthum.</p><lb/>
            <p>Denn wenn die Abha&#x0364;ngigkeit von Chri&#x017F;to Null i&#x017F;t gegen die<lb/>
per&#x017F;o&#x0364;nliche Eigenthu&#x0364;mlichkeit und die vaterla&#x0364;ndi&#x017F;chen Ma&#x0364;ngel<lb/>
&#x017F;o i&#x017F;t Chri&#x017F;tus &#x017F;elb&#x017F;t Null.</p><lb/>
            <p>29. Wenn die dogmati&#x017F;che den Kanon von der Ana-<lb/>
logie des Glaubens u&#x0364;ber die&#x017F;e Grenzen ausdehnt vernichtet<lb/>
&#x017F;ie die Schrift.</p><lb/>
            <p>Denn ein <hi rendition="#aq">locus communis</hi> aus den deutlichen Schrift&#x017F;tellen<lb/>
kann nicht zur Erkla&#x0364;rung der dunkeln gebraucht werden ohne<lb/>
daß die Schrift aus dogmati&#x017F;chem Bewußt&#x017F;ein erkla&#x0364;rt wird,<lb/>
welches ihre Auctorita&#x0364;t vernichtet und al&#x017F;o gegen die Principien<lb/>
der dogmati&#x017F;chen An&#x017F;icht &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;treitet. Denn die Auf&#x017F;tellung<lb/>
&#x017F;olcher <hi rendition="#aq">loci communes</hi> i&#x017F;t eine dogmati&#x017F;che Operation, wobei<lb/>
außer der bezweifelten Eigenthu&#x0364;mlichkeit der Per&#x017F;on auch von<lb/>
der doch unbezweifelten Be&#x017F;onderheit der Veranla&#x017F;&#x017F;ung ab&#x017F;trahirt<lb/>
werden muß.</p><lb/>
            <p>Jede Stelle i&#x017F;t ein Ineinander von Gemein&#x017F;amem und Be-<lb/>
&#x017F;onderem und kann al&#x017F;o nicht aus dem Gemein&#x017F;amen allein<lb/>
richtig erkla&#x0364;rt werden. Das Gemein&#x017F;ame i&#x017F;t auch nicht eher<lb/>
richtig aufzu&#x017F;tellen bis alle Stellen erkla&#x0364;rt &#x017F;ind, und der &#x017F;chwan-<lb/>
kende Gegen&#x017F;az von klaren und dunklen Stellen la&#x0364;ßt &#x017F;ich dar-<lb/>
auf zuru&#x0364;ckfu&#x0364;hren, daß ur&#x017F;pru&#x0364;nglich nur Eine klar i&#x017F;t <note xml:id="note-0105" next="#note-0106" place="foot" n="1)">Schleierm. meint nemlich nach der Vorle&#x017F;ung von 1826, wenn man</note>.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">Hermeneutik u. Kritik. 6</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0105] Theils iſt die Individualitaͤt der neuteſtam. Schriftſteller erſt Produkt ihres Verhaͤltniſſes zu Chriſto, theils was die von Na- tur individuelleren betrifft, Paulus und Johannes, ſo hat der eine ſich ganz umgewendet ſo daß er doch beſſer aus andern neuteſtam. Schriftſtellern zu erklaͤren waͤre als aus eigenen vor- chriſtlichen Schriften; der andere iſt offenbar jung zu Chriſto gekommen und hat erſt als Chriſt ſeine Eigenthuͤmlichkeit entfaltet. 28. Wenn die philologiſche Anſicht dieß verkennt, vernichtet ſie das Chriſtenthum. Denn wenn die Abhaͤngigkeit von Chriſto Null iſt gegen die perſoͤnliche Eigenthuͤmlichkeit und die vaterlaͤndiſchen Maͤngel ſo iſt Chriſtus ſelbſt Null. 29. Wenn die dogmatiſche den Kanon von der Ana- logie des Glaubens uͤber dieſe Grenzen ausdehnt vernichtet ſie die Schrift. Denn ein locus communis aus den deutlichen Schriftſtellen kann nicht zur Erklaͤrung der dunkeln gebraucht werden ohne daß die Schrift aus dogmatiſchem Bewußtſein erklaͤrt wird, welches ihre Auctoritaͤt vernichtet und alſo gegen die Principien der dogmatiſchen Anſicht ſelbſt ſtreitet. Denn die Aufſtellung ſolcher loci communes iſt eine dogmatiſche Operation, wobei außer der bezweifelten Eigenthuͤmlichkeit der Perſon auch von der doch unbezweifelten Beſonderheit der Veranlaſſung abſtrahirt werden muß. Jede Stelle iſt ein Ineinander von Gemeinſamem und Be- ſonderem und kann alſo nicht aus dem Gemeinſamen allein richtig erklaͤrt werden. Das Gemeinſame iſt auch nicht eher richtig aufzuſtellen bis alle Stellen erklaͤrt ſind, und der ſchwan- kende Gegenſaz von klaren und dunklen Stellen laͤßt ſich dar- auf zuruͤckfuͤhren, daß urſpruͤnglich nur Eine klar iſt 1). 1) Schleierm. meint nemlich nach der Vorleſung von 1826, wenn man Hermeneutik u. Kritik. 6

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/105
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/105>, abgerufen am 04.12.2024.