nach vollendetem Verständniß des Einzelnen kann ich mit voller Sicherheit sagen, die Vorstellung sei dieselbe geblieben. Darin liegt eine Schwierigkeit, die nur approximativ gelöst werden kann, indem man was man gewonnen hat nur provisorisch an- nimmt und noch nicht völlig feststellt.
Der Fall solcher Sammlungen von Schriften und Reden desselben Verfassers ist mehrmal im N. T.
Wie aber, wenn Schriften verschiedener Verfasser über den- selben Gegenstand zusammengestellt werden, was für einen Werth haben diese für einander?
Es giebt Fälle, wo Schriften von Verfassern entgegengesezter Meinung, die sich auf einander beziehen, also Streitschriften, zu- sammengestellt werden. Dieß eigenthümliche Verhältniß ist nach dem zu behandeln, was über das Verfahren der Entgegensetzung gesagt ist. Aber selbst in diesem Falle ist immer etwas Identisches, Gemeinsames. Man streitet nicht, wenn nicht Gemeinsames vor- ausgesezt wird. Dieß ergiebt sich aus der Übersicht, woraus man auch sieht, wo der Streit Mißverständniß ist, wo die Strei- tenden uneinig scheinen, nicht aber sind. Für dieß Gemeinsame kann der eine aus dem andern erklärt werden, wie das Entgegen- gesezte aus der Form des Gegensazes.
Werden Schriften verschiedener Verfasser über denselben Ge- genstand zusammengestellt, die nichts von einander gewußt haben, so ist auch ungewiß was unter ihnen Differentes ist, und so kann es auch sein, daß selbst die Bezeichnung der Hauptvorstellungen nicht denselben Werth hat. Um hierüber gewiß zu werden, muß man sich die Hauptbegriffe, also die Hauptwörter und die Zeitwör- ter, welche in der Darstellung wesentliche Momente sind, und die verschiedenen Nebenbestimmungen, mit denen diese Momente bei dem einen oder andern vorkommen, herausziehen und zusammen- stellen. Daraus muß sich denn ergeben, wiefern die Hauptgedan- ken und ihre Bezeichnungen dieselben sind. Ohne solche Analyse
Hermeneutik u. Kritik. 8
nach vollendetem Verſtaͤndniß des Einzelnen kann ich mit voller Sicherheit ſagen, die Vorſtellung ſei dieſelbe geblieben. Darin liegt eine Schwierigkeit, die nur approximativ geloͤſt werden kann, indem man was man gewonnen hat nur proviſoriſch an- nimmt und noch nicht voͤllig feſtſtellt.
Der Fall ſolcher Sammlungen von Schriften und Reden deſſelben Verfaſſers iſt mehrmal im N. T.
Wie aber, wenn Schriften verſchiedener Verfaſſer uͤber den- ſelben Gegenſtand zuſammengeſtellt werden, was fuͤr einen Werth haben dieſe fuͤr einander?
Es giebt Faͤlle, wo Schriften von Verfaſſern entgegengeſezter Meinung, die ſich auf einander beziehen, alſo Streitſchriften, zu- ſammengeſtellt werden. Dieß eigenthuͤmliche Verhaͤltniß iſt nach dem zu behandeln, was uͤber das Verfahren der Entgegenſetzung geſagt iſt. Aber ſelbſt in dieſem Falle iſt immer etwas Identiſches, Gemeinſames. Man ſtreitet nicht, wenn nicht Gemeinſames vor- ausgeſezt wird. Dieß ergiebt ſich aus der Überſicht, woraus man auch ſieht, wo der Streit Mißverſtaͤndniß iſt, wo die Strei- tenden uneinig ſcheinen, nicht aber ſind. Fuͤr dieß Gemeinſame kann der eine aus dem andern erklaͤrt werden, wie das Entgegen- geſezte aus der Form des Gegenſazes.
Werden Schriften verſchiedener Verfaſſer uͤber denſelben Ge- genſtand zuſammengeſtellt, die nichts von einander gewußt haben, ſo iſt auch ungewiß was unter ihnen Differentes iſt, und ſo kann es auch ſein, daß ſelbſt die Bezeichnung der Hauptvorſtellungen nicht denſelben Werth hat. Um hieruͤber gewiß zu werden, muß man ſich die Hauptbegriffe, alſo die Hauptwoͤrter und die Zeitwoͤr- ter, welche in der Darſtellung weſentliche Momente ſind, und die verſchiedenen Nebenbeſtimmungen, mit denen dieſe Momente bei dem einen oder andern vorkommen, herausziehen und zuſammen- ſtellen. Daraus muß ſich denn ergeben, wiefern die Hauptgedan- ken und ihre Bezeichnungen dieſelben ſind. Ohne ſolche Analyſe
Hermeneutik u. Kritik. 8
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0137"n="113"/>
nach vollendetem Verſtaͤndniß des Einzelnen kann ich mit voller<lb/>
Sicherheit ſagen, die Vorſtellung ſei dieſelbe geblieben. Darin<lb/>
liegt eine Schwierigkeit, die nur approximativ geloͤſt werden<lb/>
kann, indem man was man gewonnen hat nur proviſoriſch an-<lb/>
nimmt und noch nicht voͤllig feſtſtellt.</p><lb/><p>Der Fall ſolcher Sammlungen von Schriften und Reden<lb/>
deſſelben Verfaſſers iſt mehrmal im N. T.</p><lb/><p>Wie aber, wenn Schriften verſchiedener Verfaſſer uͤber den-<lb/>ſelben Gegenſtand zuſammengeſtellt werden, was fuͤr einen Werth<lb/>
haben dieſe fuͤr einander?</p><lb/><p>Es giebt Faͤlle, wo Schriften von Verfaſſern entgegengeſezter<lb/>
Meinung, die ſich auf einander beziehen, alſo Streitſchriften, zu-<lb/>ſammengeſtellt werden. Dieß eigenthuͤmliche Verhaͤltniß iſt nach<lb/>
dem zu behandeln, was uͤber das Verfahren der Entgegenſetzung<lb/>
geſagt iſt. Aber ſelbſt in dieſem Falle iſt immer etwas Identiſches,<lb/>
Gemeinſames. Man ſtreitet nicht, wenn nicht Gemeinſames vor-<lb/>
ausgeſezt wird. Dieß ergiebt ſich aus der Überſicht, woraus<lb/>
man auch ſieht, wo der Streit Mißverſtaͤndniß iſt, wo die Strei-<lb/>
tenden uneinig ſcheinen, nicht aber ſind. Fuͤr dieß Gemeinſame<lb/>
kann der eine aus dem andern erklaͤrt werden, wie das Entgegen-<lb/>
geſezte aus der Form des Gegenſazes.</p><lb/><p>Werden Schriften verſchiedener Verfaſſer uͤber denſelben Ge-<lb/>
genſtand zuſammengeſtellt, die nichts von einander gewußt haben,<lb/>ſo iſt auch ungewiß was unter ihnen Differentes iſt, und ſo kann<lb/>
es auch ſein, daß ſelbſt die Bezeichnung der Hauptvorſtellungen<lb/>
nicht denſelben Werth hat. Um hieruͤber gewiß zu werden, muß<lb/>
man ſich die Hauptbegriffe, alſo die Hauptwoͤrter und die Zeitwoͤr-<lb/>
ter, welche in der Darſtellung weſentliche Momente ſind, und die<lb/>
verſchiedenen Nebenbeſtimmungen, mit denen dieſe Momente bei<lb/>
dem einen oder andern vorkommen, herausziehen und zuſammen-<lb/>ſtellen. Daraus muß ſich denn ergeben, wiefern die Hauptgedan-<lb/>
ken und ihre Bezeichnungen dieſelben ſind. Ohne ſolche Analyſe<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Hermeneutik u. Kritik. 8</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[113/0137]
nach vollendetem Verſtaͤndniß des Einzelnen kann ich mit voller
Sicherheit ſagen, die Vorſtellung ſei dieſelbe geblieben. Darin
liegt eine Schwierigkeit, die nur approximativ geloͤſt werden
kann, indem man was man gewonnen hat nur proviſoriſch an-
nimmt und noch nicht voͤllig feſtſtellt.
Der Fall ſolcher Sammlungen von Schriften und Reden
deſſelben Verfaſſers iſt mehrmal im N. T.
Wie aber, wenn Schriften verſchiedener Verfaſſer uͤber den-
ſelben Gegenſtand zuſammengeſtellt werden, was fuͤr einen Werth
haben dieſe fuͤr einander?
Es giebt Faͤlle, wo Schriften von Verfaſſern entgegengeſezter
Meinung, die ſich auf einander beziehen, alſo Streitſchriften, zu-
ſammengeſtellt werden. Dieß eigenthuͤmliche Verhaͤltniß iſt nach
dem zu behandeln, was uͤber das Verfahren der Entgegenſetzung
geſagt iſt. Aber ſelbſt in dieſem Falle iſt immer etwas Identiſches,
Gemeinſames. Man ſtreitet nicht, wenn nicht Gemeinſames vor-
ausgeſezt wird. Dieß ergiebt ſich aus der Überſicht, woraus
man auch ſieht, wo der Streit Mißverſtaͤndniß iſt, wo die Strei-
tenden uneinig ſcheinen, nicht aber ſind. Fuͤr dieß Gemeinſame
kann der eine aus dem andern erklaͤrt werden, wie das Entgegen-
geſezte aus der Form des Gegenſazes.
Werden Schriften verſchiedener Verfaſſer uͤber denſelben Ge-
genſtand zuſammengeſtellt, die nichts von einander gewußt haben,
ſo iſt auch ungewiß was unter ihnen Differentes iſt, und ſo kann
es auch ſein, daß ſelbſt die Bezeichnung der Hauptvorſtellungen
nicht denſelben Werth hat. Um hieruͤber gewiß zu werden, muß
man ſich die Hauptbegriffe, alſo die Hauptwoͤrter und die Zeitwoͤr-
ter, welche in der Darſtellung weſentliche Momente ſind, und die
verſchiedenen Nebenbeſtimmungen, mit denen dieſe Momente bei
dem einen oder andern vorkommen, herausziehen und zuſammen-
ſtellen. Daraus muß ſich denn ergeben, wiefern die Hauptgedan-
ken und ihre Bezeichnungen dieſelben ſind. Ohne ſolche Analyſe
Hermeneutik u. Kritik. 8
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/137>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.