sich auf Vergleichung einzelner Stellen einzulassen, würde nur Un- gefähres geben.
Dieser Fall ist der des N. Testaments. Die neutestamentischen Schriftsteller haben wenig von einander gewußt. Nimmt man 2. Petri 3, 15 und 16. und etwa Gal. 2, 11 ff. aus, so ist kein Fall, wo der eine sich auf den andern bezogen hätte. Auch wis- sen wir sonst wenig von der Kenntniß, die sie von einander ge- habt haben. Da ist nun große Vorsicht nöthig und deshalb die vorherbezeichnete vorgängige Analyse unerläßlich, also eine vollständige Zusammenstellung der Ausdrücke sämmtlicher christlichen Vorstellungen im N. T. in ihren verschiedenen Formen, sowol der wesentlichen Subject- und Prädicatwörter, als der wesent- lichen Nebenbestimmungen. Nur so kann man sehen, ob der Cyklus von Gebrauchsweisen bei verschiedenen Schriftstellern und in ver- schiedenen Schriften derselbe ist oder nicht. Darnach bestimmt sich auch der Gebrauch der Parallelstellen.
Unbedachtes Verfahren ist hier um so gefährlicher da wir alle vor der wissenschaftlichen Behandlung schon Kenntniß des N. T. haben, aber aus dem gemeinsamen kirchlichen Leben, aus Überse- zungen, aus dem anwendenden Gebrauch der Stellen außer ih- rem Zusammenhange leicht Vorstellungen mitbringen, die an dem wahren Verständniß hindern. Diese Schwierigkeiten fielen weg, wenn wir das N. T. als etwas ganz Neues anfingen auszule- gen. Das geht nun freilich nicht. Aber um so mehr muß man darnach streben, so vorsichtig und unbefangen als möglich zu Werke zu gehen, und in jedem einzelnen Falle genau zusehen, wie es mit der Verwandschaft paralleler Stellen steht. Die neu- testam. Schriftsteller schließen in dieser Beziehung viele Differen- zen in sich; sie gebrauchen Ausdrücke in sehr verschiedenem Local- werthe, und andere die auf gewisse Gebrauchsweisen beschränkt sind. Ohne hier die Totalität im Auge zu haben, werden wir Irrthümer nicht vermeiden.
Will man sich den allgemeinen Kanon in specielle Regeln auflösen, so stößt man auf die bedeutende Schwierigkeit, daß das
ſich auf Vergleichung einzelner Stellen einzulaſſen, wuͤrde nur Un- gefaͤhres geben.
Dieſer Fall iſt der des N. Teſtaments. Die neuteſtamentiſchen Schriftſteller haben wenig von einander gewußt. Nimmt man 2. Petri 3, 15 und 16. und etwa Gal. 2, 11 ff. aus, ſo iſt kein Fall, wo der eine ſich auf den andern bezogen haͤtte. Auch wiſ- ſen wir ſonſt wenig von der Kenntniß, die ſie von einander ge- habt haben. Da iſt nun große Vorſicht noͤthig und deshalb die vorherbezeichnete vorgaͤngige Analyſe unerlaͤßlich, alſo eine vollſtaͤndige Zuſammenſtellung der Ausdruͤcke ſaͤmmtlicher chriſtlichen Vorſtellungen im N. T. in ihren verſchiedenen Formen, ſowol der weſentlichen Subject- und Praͤdicatwoͤrter, als der weſent- lichen Nebenbeſtimmungen. Nur ſo kann man ſehen, ob der Cyklus von Gebrauchsweiſen bei verſchiedenen Schriftſtellern und in ver- ſchiedenen Schriften derſelbe iſt oder nicht. Darnach beſtimmt ſich auch der Gebrauch der Parallelſtellen.
Unbedachtes Verfahren iſt hier um ſo gefaͤhrlicher da wir alle vor der wiſſenſchaftlichen Behandlung ſchon Kenntniß des N. T. haben, aber aus dem gemeinſamen kirchlichen Leben, aus Überſe- zungen, aus dem anwendenden Gebrauch der Stellen außer ih- rem Zuſammenhange leicht Vorſtellungen mitbringen, die an dem wahren Verſtaͤndniß hindern. Dieſe Schwierigkeiten fielen weg, wenn wir das N. T. als etwas ganz Neues anfingen auszule- gen. Das geht nun freilich nicht. Aber um ſo mehr muß man darnach ſtreben, ſo vorſichtig und unbefangen als moͤglich zu Werke zu gehen, und in jedem einzelnen Falle genau zuſehen, wie es mit der Verwandſchaft paralleler Stellen ſteht. Die neu- teſtam. Schriftſteller ſchließen in dieſer Beziehung viele Differen- zen in ſich; ſie gebrauchen Ausdruͤcke in ſehr verſchiedenem Local- werthe, und andere die auf gewiſſe Gebrauchsweiſen beſchraͤnkt ſind. Ohne hier die Totalitaͤt im Auge zu haben, werden wir Irrthuͤmer nicht vermeiden.
Will man ſich den allgemeinen Kanon in ſpecielle Regeln aufloͤſen, ſo ſtoͤßt man auf die bedeutende Schwierigkeit, daß das
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ſich auf Vergleichung einzelner Stellen einzulaſſen, wuͤrde nur Un-
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Dieſer Fall iſt der des N. Teſtaments. Die neuteſtamentiſchen
Schriftſteller haben wenig von einander gewußt. Nimmt man
2. Petri 3, 15 und 16. und etwa Gal. 2, 11 ff. aus, ſo iſt kein
Fall, wo der eine ſich auf den andern bezogen haͤtte. Auch wiſ-
ſen wir ſonſt wenig von der Kenntniß, die ſie von einander ge-
habt haben. Da iſt nun große Vorſicht noͤthig und deshalb
die vorherbezeichnete vorgaͤngige Analyſe unerlaͤßlich, alſo eine
vollſtaͤndige Zuſammenſtellung der Ausdruͤcke ſaͤmmtlicher chriſtlichen
Vorſtellungen im N. T. in ihren verſchiedenen Formen, ſowol
der weſentlichen Subject- und Praͤdicatwoͤrter, als der weſent-
lichen Nebenbeſtimmungen. Nur ſo kann man ſehen, ob der Cyklus
von Gebrauchsweiſen bei verſchiedenen Schriftſtellern und in ver-
ſchiedenen Schriften derſelbe iſt oder nicht. Darnach beſtimmt
ſich auch der Gebrauch der Parallelſtellen.
Unbedachtes Verfahren iſt hier um ſo gefaͤhrlicher da wir alle
vor der wiſſenſchaftlichen Behandlung ſchon Kenntniß des N. T.
haben, aber aus dem gemeinſamen kirchlichen Leben, aus Überſe-
zungen, aus dem anwendenden Gebrauch der Stellen außer ih-
rem Zuſammenhange leicht Vorſtellungen mitbringen, die an dem
wahren Verſtaͤndniß hindern. Dieſe Schwierigkeiten fielen weg,
wenn wir das N. T. als etwas ganz Neues anfingen auszule-
gen. Das geht nun freilich nicht. Aber um ſo mehr muß man
darnach ſtreben, ſo vorſichtig und unbefangen als moͤglich zu
Werke zu gehen, und in jedem einzelnen Falle genau zuſehen,
wie es mit der Verwandſchaft paralleler Stellen ſteht. Die neu-
teſtam. Schriftſteller ſchließen in dieſer Beziehung viele Differen-
zen in ſich; ſie gebrauchen Ausdruͤcke in ſehr verſchiedenem Local-
werthe, und andere die auf gewiſſe Gebrauchsweiſen beſchraͤnkt
ſind. Ohne hier die Totalitaͤt im Auge zu haben, werden wir
Irrthuͤmer nicht vermeiden.
Will man ſich den allgemeinen Kanon in ſpecielle Regeln
aufloͤſen, ſo ſtoͤßt man auf die bedeutende Schwierigkeit, daß das
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/138>, abgerufen am 04.12.2024.
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