Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

können. Nimmt man dieß nicht an, sondern eine verborgene or-
ganische Verknüpfung, so entsteht ein ganz anderes Verfahren und
Verschiedenheit der Meinung über das Verhältniß des einen zum
andern ist unvermeidlich. Ebenso kann zweifelhaft sein, ob eine
didaktische Stelle in den Evangelien nur Auszug ist aus einem
größeren Ganzen. Dieß kommt besonders bei dem Evangelium
des Johannes in Betracht, worin Dialogen vorkommen, von de-
nen man sagen muß, daß sie für das ursprünglich gehaltene Ge-
spräch zu kurz und in ihren Resultaten zu wenig befriedigend sind.
Das Gespräch mit Nikodemus z. B. ist gewiß nur ein Auszug
aus dem wirklich gehaltenen, woraus nur gewisse Hauptpunkte
hervorgehoben sind. In solchen Fällen wird die Auslegung sehr
schwierig, weil man nicht weiß, was unmittelbar zusammengehört
und welches die Mittelgedanken sind, also die einzelnen Elemente
und ihre Verbindung nicht leicht mit Sicherheit abschäzen kann.
Unter anderer Voraussezung wäre die Auslegung eine ganz an-
dere. Dasselbe gilt mit größter Wahrscheinlichkeit von vielen nicht
dialogischen Reden Christi, daß sie nur Auszüge sind. Je nach-
dem man nun Auszüge annimmt oder Zusammenstellung ur-
sprünglich nicht zusammengehöriger Theile, ist das hermeneutische
Verfahren sehr verschieden. Suche ich hier bloß nach dem Schlüs-
sel zur bloßen Aneinanderreihung, so ist dort die Aufgabe, die Fu-
gen der Zusammensezung, die Momente der ursprünglichen orga-
nischen Verbindung des Ganzen ausfindig zu machen. Aber hier
findet wieder ein Kreis statt. Die Interpretation wird durch die
eine oder andere Voraussezung bestimmt, diese umgekehrt wieder
durch jene. Die Aufgabe kann nur approximativ gelöst werden
durch Übersicht des gesammten Inhalts, wobei wieder die gegen-
seitige Bedingung des materiellen und formellen Elements in Be-
tracht kommt.

Bei den eigentlich didaktischen Schriften, den Briefen, ist
zu unterscheiden, ob sie mehr oder weniger eigentliche Briefform ha-
ben und welche. Es ist ein anderes Briefe zu schreiben in Bezie-
hung auf schon vorhandene und bestimmte Verhältnisse, und ein an

koͤnnen. Nimmt man dieß nicht an, ſondern eine verborgene or-
ganiſche Verknuͤpfung, ſo entſteht ein ganz anderes Verfahren und
Verſchiedenheit der Meinung uͤber das Verhaͤltniß des einen zum
andern iſt unvermeidlich. Ebenſo kann zweifelhaft ſein, ob eine
didaktiſche Stelle in den Evangelien nur Auszug iſt aus einem
groͤßeren Ganzen. Dieß kommt beſonders bei dem Evangelium
des Johannes in Betracht, worin Dialogen vorkommen, von de-
nen man ſagen muß, daß ſie fuͤr das urſpruͤnglich gehaltene Ge-
ſpraͤch zu kurz und in ihren Reſultaten zu wenig befriedigend ſind.
Das Geſpraͤch mit Nikodemus z. B. iſt gewiß nur ein Auszug
aus dem wirklich gehaltenen, woraus nur gewiſſe Hauptpunkte
hervorgehoben ſind. In ſolchen Faͤllen wird die Auslegung ſehr
ſchwierig, weil man nicht weiß, was unmittelbar zuſammengehoͤrt
und welches die Mittelgedanken ſind, alſo die einzelnen Elemente
und ihre Verbindung nicht leicht mit Sicherheit abſchaͤzen kann.
Unter anderer Vorausſezung waͤre die Auslegung eine ganz an-
dere. Daſſelbe gilt mit groͤßter Wahrſcheinlichkeit von vielen nicht
dialogiſchen Reden Chriſti, daß ſie nur Auszuͤge ſind. Je nach-
dem man nun Auszuͤge annimmt oder Zuſammenſtellung ur-
ſpruͤnglich nicht zuſammengehoͤriger Theile, iſt das hermeneutiſche
Verfahren ſehr verſchieden. Suche ich hier bloß nach dem Schluͤſ-
ſel zur bloßen Aneinanderreihung, ſo iſt dort die Aufgabe, die Fu-
gen der Zuſammenſezung, die Momente der urſpruͤnglichen orga-
niſchen Verbindung des Ganzen ausfindig zu machen. Aber hier
findet wieder ein Kreis ſtatt. Die Interpretation wird durch die
eine oder andere Vorausſezung beſtimmt, dieſe umgekehrt wieder
durch jene. Die Aufgabe kann nur approximativ geloͤſt werden
durch Überſicht des geſammten Inhalts, wobei wieder die gegen-
ſeitige Bedingung des materiellen und formellen Elements in Be-
tracht kommt.

Bei den eigentlich didaktiſchen Schriften, den Briefen, iſt
zu unterſcheiden, ob ſie mehr oder weniger eigentliche Briefform ha-
ben und welche. Es iſt ein anderes Briefe zu ſchreiben in Bezie-
hung auf ſchon vorhandene und beſtimmte Verhaͤltniſſe, und ein an

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0149" n="125"/>
ko&#x0364;nnen. Nimmt man dieß nicht an, &#x017F;ondern eine verborgene or-<lb/>
gani&#x017F;che Verknu&#x0364;pfung, &#x017F;o ent&#x017F;teht ein ganz anderes Verfahren und<lb/>
Ver&#x017F;chiedenheit der Meinung u&#x0364;ber das Verha&#x0364;ltniß des einen zum<lb/>
andern i&#x017F;t unvermeidlich. Eben&#x017F;o kann zweifelhaft &#x017F;ein, ob eine<lb/>
didakti&#x017F;che Stelle in den Evangelien nur Auszug i&#x017F;t aus einem<lb/>
gro&#x0364;ßeren Ganzen. Dieß kommt be&#x017F;onders bei dem Evangelium<lb/>
des Johannes in Betracht, worin Dialogen vorkommen, von de-<lb/>
nen man &#x017F;agen muß, daß &#x017F;ie fu&#x0364;r das ur&#x017F;pru&#x0364;nglich gehaltene Ge-<lb/>
&#x017F;pra&#x0364;ch zu kurz und in ihren Re&#x017F;ultaten zu wenig befriedigend &#x017F;ind.<lb/>
Das Ge&#x017F;pra&#x0364;ch mit Nikodemus z. B. i&#x017F;t gewiß nur ein Auszug<lb/>
aus dem wirklich gehaltenen, woraus nur gewi&#x017F;&#x017F;e Hauptpunkte<lb/>
hervorgehoben &#x017F;ind. In &#x017F;olchen Fa&#x0364;llen wird die Auslegung &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;chwierig, weil man nicht weiß, was unmittelbar zu&#x017F;ammengeho&#x0364;rt<lb/>
und welches die Mittelgedanken &#x017F;ind, al&#x017F;o die einzelnen Elemente<lb/>
und ihre Verbindung nicht leicht mit Sicherheit ab&#x017F;cha&#x0364;zen kann.<lb/>
Unter anderer Voraus&#x017F;ezung wa&#x0364;re die Auslegung eine ganz an-<lb/>
dere. Da&#x017F;&#x017F;elbe gilt mit gro&#x0364;ßter Wahr&#x017F;cheinlichkeit von vielen nicht<lb/>
dialogi&#x017F;chen Reden Chri&#x017F;ti, daß &#x017F;ie nur Auszu&#x0364;ge &#x017F;ind. Je nach-<lb/>
dem man nun Auszu&#x0364;ge annimmt oder Zu&#x017F;ammen&#x017F;tellung ur-<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;nglich nicht zu&#x017F;ammengeho&#x0364;riger Theile, i&#x017F;t das hermeneuti&#x017F;che<lb/>
Verfahren &#x017F;ehr ver&#x017F;chieden. Suche ich hier bloß nach dem Schlu&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;el zur bloßen Aneinanderreihung, &#x017F;o i&#x017F;t dort die Aufgabe, die Fu-<lb/>
gen der Zu&#x017F;ammen&#x017F;ezung, die Momente der ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen orga-<lb/>
ni&#x017F;chen Verbindung des Ganzen ausfindig zu machen. Aber hier<lb/>
findet wieder ein Kreis &#x017F;tatt. Die Interpretation wird durch die<lb/>
eine oder andere Voraus&#x017F;ezung be&#x017F;timmt, die&#x017F;e umgekehrt wieder<lb/>
durch jene. Die Aufgabe kann nur approximativ gelo&#x0364;&#x017F;t werden<lb/>
durch Über&#x017F;icht des ge&#x017F;ammten Inhalts, wobei wieder die gegen-<lb/>
&#x017F;eitige Bedingung des materiellen und formellen Elements in Be-<lb/>
tracht kommt.</p><lb/>
            <p>Bei den eigentlich didakti&#x017F;chen Schriften, den Briefen, i&#x017F;t<lb/>
zu unter&#x017F;cheiden, ob &#x017F;ie mehr oder weniger eigentliche Briefform ha-<lb/>
ben und welche. Es i&#x017F;t ein anderes Briefe zu &#x017F;chreiben in Bezie-<lb/>
hung auf &#x017F;chon vorhandene und be&#x017F;timmte Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, und ein an<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0149] koͤnnen. Nimmt man dieß nicht an, ſondern eine verborgene or- ganiſche Verknuͤpfung, ſo entſteht ein ganz anderes Verfahren und Verſchiedenheit der Meinung uͤber das Verhaͤltniß des einen zum andern iſt unvermeidlich. Ebenſo kann zweifelhaft ſein, ob eine didaktiſche Stelle in den Evangelien nur Auszug iſt aus einem groͤßeren Ganzen. Dieß kommt beſonders bei dem Evangelium des Johannes in Betracht, worin Dialogen vorkommen, von de- nen man ſagen muß, daß ſie fuͤr das urſpruͤnglich gehaltene Ge- ſpraͤch zu kurz und in ihren Reſultaten zu wenig befriedigend ſind. Das Geſpraͤch mit Nikodemus z. B. iſt gewiß nur ein Auszug aus dem wirklich gehaltenen, woraus nur gewiſſe Hauptpunkte hervorgehoben ſind. In ſolchen Faͤllen wird die Auslegung ſehr ſchwierig, weil man nicht weiß, was unmittelbar zuſammengehoͤrt und welches die Mittelgedanken ſind, alſo die einzelnen Elemente und ihre Verbindung nicht leicht mit Sicherheit abſchaͤzen kann. Unter anderer Vorausſezung waͤre die Auslegung eine ganz an- dere. Daſſelbe gilt mit groͤßter Wahrſcheinlichkeit von vielen nicht dialogiſchen Reden Chriſti, daß ſie nur Auszuͤge ſind. Je nach- dem man nun Auszuͤge annimmt oder Zuſammenſtellung ur- ſpruͤnglich nicht zuſammengehoͤriger Theile, iſt das hermeneutiſche Verfahren ſehr verſchieden. Suche ich hier bloß nach dem Schluͤſ- ſel zur bloßen Aneinanderreihung, ſo iſt dort die Aufgabe, die Fu- gen der Zuſammenſezung, die Momente der urſpruͤnglichen orga- niſchen Verbindung des Ganzen ausfindig zu machen. Aber hier findet wieder ein Kreis ſtatt. Die Interpretation wird durch die eine oder andere Vorausſezung beſtimmt, dieſe umgekehrt wieder durch jene. Die Aufgabe kann nur approximativ geloͤſt werden durch Überſicht des geſammten Inhalts, wobei wieder die gegen- ſeitige Bedingung des materiellen und formellen Elements in Be- tracht kommt. Bei den eigentlich didaktiſchen Schriften, den Briefen, iſt zu unterſcheiden, ob ſie mehr oder weniger eigentliche Briefform ha- ben und welche. Es iſt ein anderes Briefe zu ſchreiben in Bezie- hung auf ſchon vorhandene und beſtimmte Verhaͤltniſſe, und ein an

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/149
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/149>, abgerufen am 04.12.2024.