können. Nimmt man dieß nicht an, sondern eine verborgene or- ganische Verknüpfung, so entsteht ein ganz anderes Verfahren und Verschiedenheit der Meinung über das Verhältniß des einen zum andern ist unvermeidlich. Ebenso kann zweifelhaft sein, ob eine didaktische Stelle in den Evangelien nur Auszug ist aus einem größeren Ganzen. Dieß kommt besonders bei dem Evangelium des Johannes in Betracht, worin Dialogen vorkommen, von de- nen man sagen muß, daß sie für das ursprünglich gehaltene Ge- spräch zu kurz und in ihren Resultaten zu wenig befriedigend sind. Das Gespräch mit Nikodemus z. B. ist gewiß nur ein Auszug aus dem wirklich gehaltenen, woraus nur gewisse Hauptpunkte hervorgehoben sind. In solchen Fällen wird die Auslegung sehr schwierig, weil man nicht weiß, was unmittelbar zusammengehört und welches die Mittelgedanken sind, also die einzelnen Elemente und ihre Verbindung nicht leicht mit Sicherheit abschäzen kann. Unter anderer Voraussezung wäre die Auslegung eine ganz an- dere. Dasselbe gilt mit größter Wahrscheinlichkeit von vielen nicht dialogischen Reden Christi, daß sie nur Auszüge sind. Je nach- dem man nun Auszüge annimmt oder Zusammenstellung ur- sprünglich nicht zusammengehöriger Theile, ist das hermeneutische Verfahren sehr verschieden. Suche ich hier bloß nach dem Schlüs- sel zur bloßen Aneinanderreihung, so ist dort die Aufgabe, die Fu- gen der Zusammensezung, die Momente der ursprünglichen orga- nischen Verbindung des Ganzen ausfindig zu machen. Aber hier findet wieder ein Kreis statt. Die Interpretation wird durch die eine oder andere Voraussezung bestimmt, diese umgekehrt wieder durch jene. Die Aufgabe kann nur approximativ gelöst werden durch Übersicht des gesammten Inhalts, wobei wieder die gegen- seitige Bedingung des materiellen und formellen Elements in Be- tracht kommt.
Bei den eigentlich didaktischen Schriften, den Briefen, ist zu unterscheiden, ob sie mehr oder weniger eigentliche Briefform ha- ben und welche. Es ist ein anderes Briefe zu schreiben in Bezie- hung auf schon vorhandene und bestimmte Verhältnisse, und ein an
koͤnnen. Nimmt man dieß nicht an, ſondern eine verborgene or- ganiſche Verknuͤpfung, ſo entſteht ein ganz anderes Verfahren und Verſchiedenheit der Meinung uͤber das Verhaͤltniß des einen zum andern iſt unvermeidlich. Ebenſo kann zweifelhaft ſein, ob eine didaktiſche Stelle in den Evangelien nur Auszug iſt aus einem groͤßeren Ganzen. Dieß kommt beſonders bei dem Evangelium des Johannes in Betracht, worin Dialogen vorkommen, von de- nen man ſagen muß, daß ſie fuͤr das urſpruͤnglich gehaltene Ge- ſpraͤch zu kurz und in ihren Reſultaten zu wenig befriedigend ſind. Das Geſpraͤch mit Nikodemus z. B. iſt gewiß nur ein Auszug aus dem wirklich gehaltenen, woraus nur gewiſſe Hauptpunkte hervorgehoben ſind. In ſolchen Faͤllen wird die Auslegung ſehr ſchwierig, weil man nicht weiß, was unmittelbar zuſammengehoͤrt und welches die Mittelgedanken ſind, alſo die einzelnen Elemente und ihre Verbindung nicht leicht mit Sicherheit abſchaͤzen kann. Unter anderer Vorausſezung waͤre die Auslegung eine ganz an- dere. Daſſelbe gilt mit groͤßter Wahrſcheinlichkeit von vielen nicht dialogiſchen Reden Chriſti, daß ſie nur Auszuͤge ſind. Je nach- dem man nun Auszuͤge annimmt oder Zuſammenſtellung ur- ſpruͤnglich nicht zuſammengehoͤriger Theile, iſt das hermeneutiſche Verfahren ſehr verſchieden. Suche ich hier bloß nach dem Schluͤſ- ſel zur bloßen Aneinanderreihung, ſo iſt dort die Aufgabe, die Fu- gen der Zuſammenſezung, die Momente der urſpruͤnglichen orga- niſchen Verbindung des Ganzen ausfindig zu machen. Aber hier findet wieder ein Kreis ſtatt. Die Interpretation wird durch die eine oder andere Vorausſezung beſtimmt, dieſe umgekehrt wieder durch jene. Die Aufgabe kann nur approximativ geloͤſt werden durch Überſicht des geſammten Inhalts, wobei wieder die gegen- ſeitige Bedingung des materiellen und formellen Elements in Be- tracht kommt.
Bei den eigentlich didaktiſchen Schriften, den Briefen, iſt zu unterſcheiden, ob ſie mehr oder weniger eigentliche Briefform ha- ben und welche. Es iſt ein anderes Briefe zu ſchreiben in Bezie- hung auf ſchon vorhandene und beſtimmte Verhaͤltniſſe, und ein an
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koͤnnen. Nimmt man dieß nicht an, ſondern eine verborgene or-
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Verſchiedenheit der Meinung uͤber das Verhaͤltniß des einen zum
andern iſt unvermeidlich. Ebenſo kann zweifelhaft ſein, ob eine
didaktiſche Stelle in den Evangelien nur Auszug iſt aus einem
groͤßeren Ganzen. Dieß kommt beſonders bei dem Evangelium
des Johannes in Betracht, worin Dialogen vorkommen, von de-
nen man ſagen muß, daß ſie fuͤr das urſpruͤnglich gehaltene Ge-
ſpraͤch zu kurz und in ihren Reſultaten zu wenig befriedigend ſind.
Das Geſpraͤch mit Nikodemus z. B. iſt gewiß nur ein Auszug
aus dem wirklich gehaltenen, woraus nur gewiſſe Hauptpunkte
hervorgehoben ſind. In ſolchen Faͤllen wird die Auslegung ſehr
ſchwierig, weil man nicht weiß, was unmittelbar zuſammengehoͤrt
und welches die Mittelgedanken ſind, alſo die einzelnen Elemente
und ihre Verbindung nicht leicht mit Sicherheit abſchaͤzen kann.
Unter anderer Vorausſezung waͤre die Auslegung eine ganz an-
dere. Daſſelbe gilt mit groͤßter Wahrſcheinlichkeit von vielen nicht
dialogiſchen Reden Chriſti, daß ſie nur Auszuͤge ſind. Je nach-
dem man nun Auszuͤge annimmt oder Zuſammenſtellung ur-
ſpruͤnglich nicht zuſammengehoͤriger Theile, iſt das hermeneutiſche
Verfahren ſehr verſchieden. Suche ich hier bloß nach dem Schluͤſ-
ſel zur bloßen Aneinanderreihung, ſo iſt dort die Aufgabe, die Fu-
gen der Zuſammenſezung, die Momente der urſpruͤnglichen orga-
niſchen Verbindung des Ganzen ausfindig zu machen. Aber hier
findet wieder ein Kreis ſtatt. Die Interpretation wird durch die
eine oder andere Vorausſezung beſtimmt, dieſe umgekehrt wieder
durch jene. Die Aufgabe kann nur approximativ geloͤſt werden
durch Überſicht des geſammten Inhalts, wobei wieder die gegen-
ſeitige Bedingung des materiellen und formellen Elements in Be-
tracht kommt.
Bei den eigentlich didaktiſchen Schriften, den Briefen, iſt
zu unterſcheiden, ob ſie mehr oder weniger eigentliche Briefform ha-
ben und welche. Es iſt ein anderes Briefe zu ſchreiben in Bezie-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/149>, abgerufen am 04.12.2024.
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